Sogar dem Weltmeister fehlt der Durchblick
Nur langsam kämpfen sich die ersten Sonnenstrahlen an diesem Morgen durch die dicke Nebelsuppe. Eigentlich sollten längst die letzten Formel-1-Testfahrten laufen, doch die Motoren schweigen. Die Sicht ist zu schlecht - und irgendwie ist diese Szene von den letzten Testfahrten in Barcelona symptomatisch: Kurz vor dem Saisonstart fehlt in diesem Jahr sogar den direkt Beteiligten der Durchblick
Nur langsam kämpfen sich die ersten Sonnenstrahlen an diesem Morgen durch die dicke Nebelsuppe. Eigentlich sollten längst die letzten Formel-1-Testfahrten laufen, doch die Motoren schweigen. Die Sicht ist zu schlecht - und irgendwie ist diese Szene von den letzten Testfahrten in Barcelona symptomatisch: Kurz vor dem Saisonstart fehlt in diesem Jahr sogar den direkt Beteiligten der Durchblick. 50 000 Test-Kilometer haben die zwölf Teams zurückgelegt, aber noch immer gibt es kein klares Bild über das Kräfteverhältnis. In den Zeitenlisten waren zuletzt meist Lotus und Sauber vorn. Teams aus der zweiten Reihe. Sogar Weltmeister Sebastian Vettel (Red Bull) weiß nicht genau, wo er derzeit genau fährt: "Bei den Tests haben sich diesmal alle besonders zurückgehalten, was es einem verdammt schwer macht, die Konkurrenz einzuschätzen. Erst in Melbourne werden die Hosen wirklich runter gelassen."Klar ist: Die Regel-Änderungen im Winter (etwa im Bereich des Auspuffs und des Diffusors) treffen vor allem Red Bull. "Das neue Auto rutscht mehr", hat Vettel festgestellt: "Aber das ist bei den anderen ähnlich." Was mehr Sorgen macht: Am letzten Testtag kam Vettel fast überhaupt nicht zum Fahren. Wieder legte ein Getriebe-Defekt den Red Bull lahm - es war schon der dritte in diesem Jahr. Für die meisten Experten ist der Titelverteidiger dennoch der große Favorit auf die Krone. Vettel würde dann schaffen, was in über 60 Jahren Formel 1 erst zwei Fahrern gelungen ist: ein WM-Hattrick. Juan Manuel Fangio brachte das in den 50ern fertig, Michael Schumacher holte von 2000 bis 2004 sogar fünf Titel in Folge. Vettel ist guter Dinge: "Es wäre gelogen, wenn ich sage, dass bei uns alles perfekt gelaufen wäre. Aber es ist normal, dass ein neues Auto zickt. Schlimm wäre es nur, wenn es nicht schnell wäre. Ich freue mich jedenfalls, mit der Zicke am Sonntag zu starten", sagt Vettel. Zumal Konstrukteur Adrian Newey ankündigt: "Wir haben noch einige Ideen für Melbourne." Das ist auch nötig: Zumindest von den Namen her verspricht die Saison spannend zu werden. Nach der Rückkehr von Kimi Räikkönen sind alle Weltmeister der letzten zwölf Jahre am Start. Das gab's noch nie.
Und vor allem McLaren rechnet sich viel aus. Jenson Button kündigt an: "Red Bull wird diese Saison nicht den Vorsprung haben, den sie im Vorjahr auf Anhieb hatten. Ich bin mit der Richtung, die wir beim neuen Auto eingeschlagen haben, sehr glücklich." Der Brite erwartet die "ausgeglichenste und härteste Saison überhaupt". TV-Experte und Ex-Rennfahrer Marc Surer glaubt: "McLaren ist viel besser als im Vorjahr. Sie sind nicht weit hinter Red Bull - wenn überhaupt."
Und auch Mercedes, bislang eher graue Maus als Silberpfeil, gibt sich optimistisch. Mercedes-Sportchef Norbert Haug sieht sein Team "viel besser vorbereitet als in den letzten beiden Jahren". Beim Einstieg des Teams 2010 kündigte Haug für 2012 den Angriff auf den WM-Titel an. Davon ist längst keine Rede mehr. Doch bei den Silberpfeilen sieht man wenigstens einen Silberstreif am Horizont. "Unser Auto ist deutlich besser geworden", ist Teamchef Ross Brawn überzeugt. Der Mercedes wirkt deutlich ranker und schlanker. Nach Auswertung der Testdaten glaubt Brawn: "Red Bull ist noch eine halbe bis eine dreiviertel Sekunde schneller als wir." Im vergangenen Jahr war der Abstand noch doppelt so groß. Brawn weiter: "Im Vorjahr mussten wir viele Ressourcen dafür verwenden, Dinge wie etwa die Kühl-Probleme zu beheben. Ressourcen, die uns dann gefehlt haben, das Auto schneller zu machen." Aus dem Grund hat Mercedes 100 zusätzliche Mitarbeiter eingestellt. Ex-Weltmeister Niki Lauda meint: "Mercedes hat enorm investiert. Die werden einen Riesenschritt machen."
Alarmstufe Rot dagegen bei Ferrari. Der F 2012 wirft bei Ingenieuren und Fahrern nach wie vor Fragen auf, das Fahrverhalten ist unberechenbar. In Barcelona hatte die Teamleitung ihren Piloten Fernando Alonso und Felipe Massa sogar einen "Maulkorb" verpasst - eine Maßnahme, die es in der 63-jährigen Geschichte der Scuderia noch nie gab. Die Worte von Teamchef Stefano Domenicali (ihm droht bei einem erneuten Misserfolg der Rauswurf) hören sich derweil nach Durchhalteparolen an: "Wir wissen, dass wir in gewissen Bereichen noch viel arbeiten müssen, aber ich rechne mit einer großartigen Reaktion." Technikchef Pat Fry hat den Saisonstart bereits abgeschrieben. Er sagt: "Pessimistisch? Ich würde es eher als realistisch definieren." Red-Bull-Chef Christian Horner rechnet trotzdem mit den Roten: "Sie sind konkurrenzfähiger, als viele glauben." Gewissheit und Durchblick? Das gibt es erst am Sonntag ab 7 Uhr.