Nur Russland atmet auf

Moskau · Berlin. Alfons Hörmann, der Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes, zeigt Verständnis für die Entscheidung des IOC zum möglichen Start russischer Sportler in Rio. Im Gespräch mit sid-Mitarbeiter Jörg Mebus erläutert er warum.

 Der Schlüssel für das milde Urteil? Thomas Bach und Wladimir Putin verbindet seit Jahren eine Männerfreundschaft. Foto: Walton/dpa

Der Schlüssel für das milde Urteil? Thomas Bach und Wladimir Putin verbindet seit Jahren eine Männerfreundschaft. Foto: Walton/dpa

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Die Sportwelt tobt, Russland triumphiert. Nach der Entscheidung des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), auf einen Komplett-Ausschluss der russischen Olympia-Mannschaft zu verzichten, jubelt das Riesenreich - und atmet auf. Das Olympia-Komitee buchte fix den Flieger nach Rio de Janeiro, der Sportminister nahm Goldmedaillen ins Visier - und von den Titelseiten der Zeitungen grinste der IOC-Präsident Thomas Bach .

Die Männerfreundschaft zwischen dem deutschen IOC-Boss und Staatsoberhaupt Wladimir Putin gilt vielen als Schlüssel für das milde Urteil des IOC. Putin selbst ließ gestern über einen Sprecher ausrichten, dass er die "positive Entscheidung" begrüße. Euphorisch klang das nicht, Putin traf damit aber den Ton im Lande. Nach der Hängepartie überwiegt die Erleichterung.

"Die Geschichte mit Rio endet peinlich für das Land, aber gnädig für die Sportler ", sagte etwa Alexander Koslowski, ehemaliges IOC-Mitglied. Ganz anders präsentierte sich Sportminister Witali Mutko. Wenige Stunden nach Verkündung der Entscheidung hatte der international höchst umstrittene Politiker seine Zufriedenheit zur Schau gestellt. "Ich hoffe, dass wir uns über Siege freuen werden", sagte Mutko: "Ich bin sicher, dass die Mehrheit der infrage kommenden russischen Sportler in Rio antreten wird."

Das IOC hatte nach dem Ausschluss russischer Leichtathleten strikte Auflagen für eine Teilnahme von Sportlern anderer Disziplinen beschlossen. Bei einer Umfrage der Deutschen Presse-Agentur erklärten mehrere Vertreter aus Fachverbänden, dass sie nun unter enormem Zeitdruck stünden. "Die Situation ist misslich. Wir müssen innerhalb kürzester Zeit darüber befinden, ob die drei für Rio qualifizierten russischen Tischtennis-Spieler sauber sind", sagte der deutsche Präsident des Weltverbandes ITTF, Thomas Weikert. Gelassener reagierten andere Verbände. Alle sieben russischen Nominierten seien "Teil eines rigorosen Anti-Doping-Programms außerhalb ihres Landes", teilte der Tennis-Weltverband ITF mit und will allen Athleten den Start ermöglichen. Der Turn-Weltverband wird entsprechend der IOC-Auflagen die russischen Athleten überprüfen und kündigte eine Entscheidung in den nächsten Tagen an. Der Schwimmverband Fina verkündete gestern für drei im McLaren genannte russische Schwimmer ein Startverbot.

Die Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) zeigte sich nach der IOC-Entscheidung schwer enttäuscht. "Der McLaren-Report hat zweifellos ein staatlich organisiertes Doping-Programm in Russland bloß gelegt, das ernsthaft die Prinzipien eines sauberen Sports im Rahmen der internationalen Anti-Doping-Regeln untergräbt", erklärte Wada-Präsident Craig Reedie, nachdem er dem IOC den Ausschluss Russlands wegen der Verwicklung staatlicher Stellen in den Sportbetrug nahe gelegt hatte. Sein Vorgänger Dick Pound sprach davon, das IOC habe eine Riesenchance vergeudet, ein klares Statement abzugeben.

Auch Matthias Kamber, der oberste Schweizer Doping-Fahnder, konnte seine Enttäuschung nicht verhehlen. "Der Entscheid des IOC ist ein großer Rückschritt für saubere Athleten wie auch für Whistleblower", sagte er. Diese müssten sich betrogen vorkommen. Julia Stepanowa, die mit Enthüllungen alles ins Rollen gebracht hat, darf als frühere Doperin nicht in Rio starten.Herr Hörmann, Ihr Schweizer Amtskollege Jörg Schild hat die IOC-Entscheidung "erstaunt, traurig und verärgert" zur Kenntnis genommen, Sie bezeichneten sie als "fair, gut nachvollziehbar und gerecht". Wie erklären Sie sich die Diskrepanz?

Dass das IOC eine schwierige Gratwanderung bewältigen musste, war klar. Da liegt es in der Natur der Sache, dass es im Nachgang zu durchaus völlig unterschiedlichen Bewertungen kommt.

Das IOC hat diese Entscheidung der Auswahl russischer Athleten an die Fachverbände delegiert.

Hörmann: Und die Aufregung darüber kann ich nicht nachvollziehen. Es geht um die Athleten pro Sportart, die zu den jeweiligen Fachverbänden gehören. Es wird im Grunde genau das vollzogen, was in den letzten Wochen in der Leichtathletik passiert ist und was international einhellig begrüßt worden war. Dieses Vorgehen ist logisch und konsequent, andernfalls hätte das IOC auf einer Ebene agiert, für die eindeutig die Verbände zuständig sind.

Ist der Zeitrahmen für die Auswahl nicht zu knapp?

Hörmann: Das Argument, dass die Auswahl innerhalb dieser Zeitspanne nicht möglich sein soll, halte ich für inakzeptabel, weil über die funktionierenden Anti-Doping-Systeme in fast allen Ländern außerhalb Russlands der Nachweis quasi auf Knopfdruck für jeden einzelnen Sportler und jede einzelne Sportart zu erbringen ist.

Glauben Sie, dass jeder Fachverband und auch das IOC die hohen Hürden auch wirklich zum Maßstab nimmt?

Hörmann: Ich bin überzeugt, dass jeder Fachverband die extrem hohe Sensibilität des Themas erkennt. Jeder muss wissen, dass an dieser Stelle höchste Sorgfalt und Professionalität geboten sind. Die Tatsache, dass das IOC ergänzend dazu mit dem Sportgerichtshof CAS eine weitere Prüfungsstufe gesetzt hat, zeigt, dass man diese Aufgabe mehr als ernst nimmt und auch klar zu nehmen hat.

Mit wie vielen russischen Sportlern rechnen Sie in Rio?

Hörmann: Wir haben sehr unterschiedliche Strukturen in den einzelnen Sportarten. Der Tennis-Weltverband konnte sich am Sonntag relativ schnell äußern, weil seine Spieler sich ohnehin meistens außerhalb Russlands aufhalten. Das ist aber in anderen Verbänden völlig anders. Da müssen wir noch etwas Geduld aufbringen.

Aber wir sprechen eher von 40 bis 50 russischen Athleten in Rio als von 150 bis 200?

Hörmann: Dieser Prognose würde ich mich anschließen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dem Großteil der russischen Mannschaft ein so weitreichender Nachweis gelingt.

Also sehen Sie keine Schwächung für das IOC, Thomas Bach oder den Welt-Anti-Doping-Kampf?

Hörmann: Thomas Bach hat den Fall professionell und so ausgewogen gemanagt, wie er es an der Spitze des Weltsports tun muss. Eine Bewertung für die olympische Bewegung würde ich daran messen wollen, wie konsequent das Maßnahmenpaket nun für die Spiele in die Praxis umgesetzt wird.

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 Russlands Sportminister Witali Mutko sprach gestern schon wieder von Olympiasiegen russischer Athleten. Foto: Kochetkov/dpa

Russlands Sportminister Witali Mutko sprach gestern schon wieder von Olympiasiegen russischer Athleten. Foto: Kochetkov/dpa

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Auf einen Blick Internationale Pressestimmen zur IOC-Entscheidung zu Russland: Daily Mail (England): "Bühne frei für die chaotischsten und verrufensten Olympischen Spiele der Geschichte." Guardian (England): "Es hinterlässt das ungute Gefühl, dass die vielleicht wichtigste Whistleblowerin in der Geschichte des Sports, Julia Stepanowa, geopfert wurde, um Wladimir Putin zu besänftigen." The Independent (England): "Bei den Olympischen Spielen geht es um individuelle Leistungen. Das war schon immer so. Ein kompletter Ausschluss Russlands hätte das verleumdet." Kommersant (Russland): "Russland bleibt im Spiel. Dank dem IOC bleibt dem einheimischen Sport die größte Katastrophe seiner Historie erspart." L'Équipe (Frankreich): "Das Internationale Olympische Komitee hat seinen Mut genommen, ihn vorsichtig in eine Schublade gelegt und deren Schlüssel verlegt." Marca (Spanien): "Das IOC hisst die Fahne Russlands. Alle Forderungen nach einer drastischen Position wurden überhört." Tuttosport (Italien): "Es gewinnt Putin. Was für ein Rückschritt!" Kurier (Österreich): "Ein Kniefall vor der Sportmacht." Der Standard (Österreich): "Das IOC hat es verpasst, einen Mittelweg zu finden, es hat Partei ergriffen." Basler Zeitung (Schweiz): "Das IOC drückt ein Auge zu." Blick (Schweiz): "Einer der dunkelsten Tage der Sport-Geschichte!" dpa

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