Miese Laune in Schwachhausen

Bremen. Es ist ein lieb gewonnenes Ritual im Hause Lemke, Auswärtsspiele von Werder vor dem Fernseher in Bremen-Schwachhausen zu verfolgen. Willi Lemke als umtriebiger Tausendsassa lädt Familienangehörige, Freunde und Bekannte ein, weil der 64-Jährige nicht nur als Aufsichtsrat dem Verein erhalten geblieben ist, sondern auch als einer der größten Fans

Bremen. Es ist ein lieb gewonnenes Ritual im Hause Lemke, Auswärtsspiele von Werder vor dem Fernseher in Bremen-Schwachhausen zu verfolgen. Willi Lemke als umtriebiger Tausendsassa lädt Familienangehörige, Freunde und Bekannte ein, weil der 64-Jährige nicht nur als Aufsichtsrat dem Verein erhalten geblieben ist, sondern auch als einer der größten Fans. Was sich Lemke am Sonntagabend hatte ansehen müssen, erinnerte den UN-Sonderberater Sport eher an einen Horrorfilm denn an ein Fußball-Spiel.

Er sei vor Erschrecken auf seinem Sofa zusammengesackt, sagte Lemke. Nach dem 0:6 beim VfB Stuttgart sieht er, von 1981 bis 1999 als Manager in der Verantwortung, den Bedarf für "eine Menge Gespräche und Analysen" mit der Geschäftsführung: "Die Situation ist Besorgnis erregend. Im Augenblick überlegen wir im Aufsichtsrat, wie wir die sportliche Leitung unterstützen können, das volle Potenzial der Mannschaft abzurufen. Ich glaube nicht, dass die Mannschaft das Fußball-Spielen verlernt hat."

Aussagen, die in schöner Regelmäßigkeit ja auch Trainer Thomas Schaaf und Vorstandschef Klaus Allofs getätigt haben, die nicht erst bei der Schmach am Sonntag machtlos wirkten, als sich Werder unprofessionell präsentierte. Torwart Tim Wiese sagte: "Ich schäme mich für uns." Während Schaaf befand, die Mannschaft sei "wie ein Sparringspartner im Boxring" aufgetreten, sprach Allofs von einer "Ohrfeige für alle, die verantwortlich sind". Gestern stand die nächste Krisensitzung an, was auch nicht so recht klappen wollte, weil Spieler um 10 Uhr auf den Trainingsplatz spazierten, dessen Tore zugesperrt waren. Erst nach der Umkehr setzte es zum wiederholten Male hinter verschlossenen Türen eine Standpauke, zu der sich Schaaf nicht äußern wollte.

Woanders gibt es mehr Redebedarf. Dem besorgten Aufsichtsrat ist nicht verborgen geblieben, dass mit der Talfahrt das mühsam erarbeitete Image angekratzt ist. Die letzte Pleite in solch desaströser Ausführung fällt in die Lemke-Ära - ein 1:7 gegen Borussia Mönchengladbach 1987. Seitdem hat sich eine Menge getan. Viele Erfolge haben dazu geführt, dass Fußballer an der Weser fürstlich verdienen, weshalb vom Umsatz (zuletzt 120,7 Millionen Euro) 48 Millionen an den Kader fließen. Ergo: Ohne Einnahmen aus dem internationalen Geschäft gehen hanseatische Kaufmannsgrundsätze nicht mehr auf. "Ohne diese Erlöse entstände ein gewaltiges Loch, und wir müssten Abstriche bei den Lizenzspielern vornehmen, denn wir können ja nicht bei den Reinigungskräften sparen", sagt Lemke als Chef des Kontrollorgans.

Die Gefahr ist real: Nach dem Abrutschen auf Platz elf in der Liga, dem Aus im DFB-Pokal und dem Quasi-Aus in der Champions League ist das grün-weiße Gebilde in seinen Grundfesten erschüttert. In Werder-Foren wird Tabubruch betrieben; die Baumeister Schaaf und Allofs, von Lemke 1999 installiert, sind zur Zielscheibe geworden. Dem Trainer werden Distanz zu Spielern, dem Vorstand verfehlte Personalpolitik und falsche Maßnahmen wie das hinter dem Rücken des Aufsichtsrats vollzogene Einbehalten der Gehälter vorgeworfen. Der von ihnen zusammengestellte Kader vereint zu viele schwer erziehbare Fälle (Arnautovic, Hunt), nicht entwicklungsfähige Profis (Prödl), alternde Kräfte (Frings) und Irrtümer (Silvestre). Hinzu bilden Sorglosigkeit und Egoismus eine unheilvolle Konstellation. "Wir laufen nur vorne rum und kriegen hinten die Dinger. So habe ich gefühlt 200 Tore kassiert", klagt Wiese - es sind 42 in 19 Pflichtspielen.

Das Heimspiel am Samstag gegen Frankfurt wird als Charaktertest ausgerufen, "Gemeinschaftssinn muss die Grundlage für den Neubeginn sein", verkündet Allofs. Vielleicht muss Werder zuvorderst auslaufende Verträge (Frings, Pasanen, Jensen, Almeida, Boenisch) als Chance begreifen, um mit einem Schritt rückwärts vorwärts zu kommen. Ziemlich sicher wird der Sonderberater Lemke bald eine Sondersitzung einberufen. Nicht in Genf bei den Vereinten Nationen, sondern in Schwachhausen bei Bremen - dem zurzeit größten Krisenherd der Bundesliga. "Die Situation ist Besorgnis erregend."

Willi Lemke (Foto: dapd), Bremens Aufsichtsrats-Chef

Auf einen Blick

Höchste Bremer Bundesliga-Niederlagen: Eintr. Frankfurt - Bremen 9:2 (14. November 1981), Bayern München - Bremen 7:0 (12. April 1980), Frankfurt - Bremen 7:0 (4. April 1964), Frankfurt - Bremen 7:1 (16. April 1977), Bremen - Bor. Mönchengladbach 1:7 (21. März 1987), München - Bremen 6:0 (29. März 1969), VfB Stuttgart - Bremen 6:0 (7. November 2010), 1. FC Köln - Bremen 7:2 (17. August 1977), Hamburger SV - Bremen 5:0 (15. Mai 1982), Hamburg - Bremen 5:0 (22. März 1980), Köln - Bremen 5:0 (26. Oktober 1991). dpa

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