Löw ist schuldBierhoff als Warner

Saarbrücken. Die Spieler wirkten hilflos. Für Mittelfeldspieler Toni Kroos war das 4:4 gegen Schweden "schwierig zu erklären", für Bastian Schweinsteiger war es "schwer zu analysieren"

Saarbrücken. Die Spieler wirkten hilflos. Für Mittelfeldspieler Toni Kroos war das 4:4 gegen Schweden "schwierig zu erklären", für Bastian Schweinsteiger war es "schwer zu analysieren". Und auch Trainer Joachim Löw hatte kurz nach dem Spiel der Deutschen "keine Erklärung" dafür, warum sich dieses 4:4 nach einer 4:0-Führung so anfühlte wie die Königin Mutter aller Niederlagen.Keiner wusste zu erklären, warum das perfekte Spiel der ersten 60 Minuten in der letzten halben Stunde zerbröselte. Ist es ein Mentalitätsproblem, ein Trainerproblem oder gar kein Problem, weil solche Verrücktheiten in der Natur des Fußballs liegen? Die Frage, warum die deutsche Nationalmannschaft in diesem Jahr in 13 Spielen bereits 22 Gegentore kassiert hat, stellte niemand.

Die Analyse des Schwedenspiels beginnt mit Schönspielerei. Die zeigte die deutsche Mannschaft in den ersten 60 Minuten in Perfektion. Marco Reus - fantastisch. Miroslav Klose - grandios. Lahm - stark. Kroos - groß. Die ersten 60 Minuten waren große Fußballkunst, das war die viel zitierte Handschrift des Trainers Joachim Löw, wobei auch analysiert werden muss, dass die Schweden in den ersten 60 Minuten kläglich versagten.

Erst nach dem 4:0 nahm sich Deutschland zurück, und Schwedens Trainer Erik Hamrén stellte um. Von Defensive auf Offensive, von Verteidigung auf Pressing. Dazu brachte er Kim Kallström ins zentrale Mittelfeld und Alexander Kacaniklic auf die linke Seite. Beide spielten offensiver als ihre Vorgänger, was Folgen hatte. Kallström nutzte seinen Freiraum im Mittelfeld, den ihm Kroos und Özil gewährten, da sie es trotz vehementer Rück-Rufe von Schweinsteiger nicht für nötig hielten zurückzulaufen (Mentalitätsproblem?). Aus den freien Räumen schlug Kallström abgebrühte Flanken hinter die Abwehr. Das 1:4 und 2:4 fielen jeweils nach solchen Situationen. Dazu kam, dass Kacaniklic Boateng früher angriff, ihn so gänzlich aus dem Spiel nahm und das 3:4 mit einer Flanke vorbereitete. Die deutsche Viererkette hatte durch die Umstellungen extreme Probleme, sich aus dem Pressing zu befreien. Sie wirkte hilflos, teils sogar überfordert. Spätestens da hatte man eine Ahnung, warum die Mannschaft bereits 22 Gegentore dieses Jahr kassiert hat. Selbst Torhüter Manuel Neuer bekam das große Flattern. Nahezu alle bekamen in der letzten halben Stunde den berühmten "Zitterfuß", den jeder Fußballer kennt, der immer mal vorkommen kann - und der nur von einem wieder in Ruhe gebracht werden kann: vom Trainer.

Spätestens nach dem 2:4 hätte Löw reagieren müssen. Er hätte das Loch im Mittelfeld mit einer weiteren echten "Sechs" stopfen müssen. Auch Boateng hätte er erlösen müssen. Auf der Bank saß zum Beispiel Höwedes. Und auch wenn es sich komisch liest: Selbst Westermann hätte dem Spiel auf der Sechs mehr Sicherheit gegeben als Özil oder Kroos. Doch Löw passte seine Taktik nicht an und wechselte mit Mario Götze und Lukas Podolski Spieler ein, die in dieser Situation nutzlos waren. Die Spieler bekamen durch die Wechsel also kein Signal, keine Sicherheit. Sie hatten wohl nach dem Spiel eher das Gefühl, dass ihr Trainer nicht helfen kann, wenn er soll. Dass er es wie im EM-Halbfinale gegen Italien einfach nicht versteht, von seinem Traum des Traumfußballs abzurücken, wenn es eng wird. Oder noch schlimmer: dass er die Probleme nicht sieht. Vielleicht wirkten sie nach dem Spiel deshalb so hilflos. Berlin. Diese bittere Lektion wird Joachim Löw und seine abgestürzten Fußball-Zauberer noch lange verfolgen. Noch nie hat eine deutsche Nationalmannschaft einen Vier-Tore-Vorsprung verspielt. "Plötzlich war eine große Unruhe da bei uns. Da ist vieles schiefgelaufen, wir haben das Spiel nicht mehr in den Griff bekommen", sagte der Bundestrainer. "Wenn das Spiel mal in so eine Phase gerät, ist es schwierig, von außen richtig Einfluss zu haben", meinte Löw, der auf taktische Korrekturen und eine dritte Auswechslung verzichtet hatte. "Wahrscheinlich begann das Problem irgendwo im Kopf", mutmaßte er. "Ich denke nicht, dass da jetzt was hängenbleibt", bemerkte der 52-Jährige mit Hinweis auf die jüngsten Diskussionen über Teamgeist oder Führungsstärke.

Manager Oliver Bierhoff wurde in seiner Spontan-Analyse deutlicher und bezog nicht nur das Schockerlebnis gegen Ibrahimovic und Co. ein. "Das sind die Dinge, die ich auch nach der Europameisterschaft gesagt habe, dass wir häufig den Fehler haben, dass wir unsere Gegner dominieren und dann durch Nachlässigkeiten wieder ins Spiel bringen", betonte Bierhoff und führte als Beispiele die EM-Spiele gegen Holland und Griechenland sowie das WM-Qualifikationsmatch kürzlich in Österreich an. Der ehemalige DFB-Kapitän übernahm die Rolle des eindringlichen Mahners: "Wichtig ist, den Finger in die Wunde zu stecken. Man darf nicht zur Tagesordnung übergehen. Man wird das knallhart analysieren."

"Eine Lehre für alle Zeiten" sollen die unverdaulichen Schweden-Happen nun sein, erklärte der Bundestrainer: "Wenn wir konzentriert sind, können wir auf unglaublich hohem Niveau spielen. Aber nur dann." dpa

Auf einen Blick

Internationale Pressestimmen zum 4:4 der Nationalmannschaft gegen Schweden:

"Áftonbladet" (Schweden): Schweden braucht kein neues Nationalstadion in Stockholm. Wir haben schon eins - in Berlin.

"Expressen" (Schweden): Nie zuvor haben wir eine solche Berg- und Talfahrt erlebt. Nie zuvor war Schweden so erdrückt, erniedrigt und verzweifelt wie in der ersten Halbzeit.

"Dagens Nyheter" (Schweden): Das war der größte Kracher der schwedischen Sportgeschichte. Die Deutschen sind eigentlich die falsche Mannschaft, um einen 4:0-Vorsprung herzugeben. Aber Schweden war diesmal die falsche Mannschaft zur Aufgabe. Danke für alles!

"El País" (Spanien): Schweden zerlegt Deutschland.

"El Mundo" (Spanien): Schweden von der Demütigung zum Heldentum: Zlatan Ibrahimovic stachelte seine Leute zu einer sozialen Revolte an, die sogar die Proteste gegen die Besuche von Angela Merkel in Euro-Krisenstaaten in den Schatten stellte.

"Marca" (Spanien): Berlin erlebt eine der erstaunlichsten Aufholjagden der letzten Jahrzehnte."

"La Gazzetta dello Sport" (Italien): 30 Albtraum-Minuten für Deutschland.

"Neue Zürcher Zeitung" (Schweiz): Berlin hat am Dienstag eine verrückte Fußballnacht erlebt.

"zarkapatie.com.ua" (Ukraine): Das Comeback aller Comebacks.

"Público" (Portugal): In Berlin sind die Fans von der Euphorie in die Depression gestürzt. (…) Ibrahimovic traf und weckte Schweden zu einer schwindelerregenden letzten halben Stunde auf. dpa

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