Koloss ohne Konkurrenz

Zürich · In Zürich messen sich Europas beste Leichtathleten. Doch einige Stars fehlen – Christina Obergföll und Jelena Issinbajewa machen eine Babypause, Raphael Holzdeppe pflegt seinen geschundenen Körper.

Kurz vor dem Abflug nach Zürich drückte David Storl noch einmal mächtig aufs Gas: Im schweren Geländewagen brauste Deutschlands Kugelstoß-Koloss über abgesperrte Brandenburger Forstwege und tobte sich mit seinem Gefährt in riesigen Pfützen aus. "Jede Menge Dreck und Spaß", sagte Storl, gab es dabei. Ein Höchstmaß an Spaß dürfte den Weltmeister auch bei der heute beginnenden Europameisterschaft erwarten.

Es sollte schon mit dem Teufel zugehen, wenn der 24 Jahre alte Chemnitzer am ersten Tag nicht gleich das erste Gold für Deutschland holen würde. Als großer Favorit geht Titelverteidiger Storl in den Wettkampf (Qualifikation 10.07 Uhr/Finale 19.34 Uhr). Die Frage ist eigentlich nur, ob es endlich mit dem ersehnten Stoß über die magische 22-Meter-Marke klappt.

"Wenn man sich die europäische Bestenliste anschaut, ist David nicht zu gefährden. Er kann sich nur selber schlagen, sich selbst runterbringen", sagte Trainer Sven Lang: "Aber das wird ihm nicht passieren."

Auf 21,97 Meter hat Storl seine Bestleistung in diesem Jahr geschraubt, vier Wettkämpfe mit mindestens 21,84 Metern abgeliefert. Unter Europas Besten folgt der Russe Alexander Lesnoi (21,40 Meter) mit stattlichem Abstand. Der Pole Tomasz Majewski, der Storl 2012 in London mit drei Zentimetern Vorsprung den Olympia-Sieg wegschnappte, kam nicht über 21,04 Meter hinaus.

Die Weiten der kontinentalen Konkurrenz liegen längst nicht mehr im Anspruchsbereich des in jungen Jahren schon so abgeklärten Sachsen. "22 Meter habe ich absolut drin. Vielleicht ist es ganz gut, dass es vor der EM nicht damit geklappt hat, so bleibt mir das für Zürich als Ziel", sagt Storl.

Nach sechs Wochen Schinderei im Bundesleistungszentrum Kienbaum bei Berlin durfte Trainer Lang jedenfalls die Vorbereitung seines Musterschülers als gelungen abhaken. "Mit Davids Leistungsniveau bin ich zufrieden. Zürich dürfte sehr ordentlich werden", sagte er. Dabei erlebte das Erfolgsduo noch eine Schrecksekunde, als sich Storl bei einer der letzten Krafteinheiten am Rücken verletzte. "Das war aber zum Glück nur ein kleines Problem, das kriegen die Physiotherapeuten schnell wieder hin", sagte Lang.

Auch Storls Sorgenknie, das bislang in diesem Jahr die weit effektivere Umspring-Technik im Ring verhinderte, macht kaum noch Ärger. "Die Knieprobleme stören nicht. Er wird in Zürich auch umspringen können", sagt Lang, der den Vorteil im Vergleich zur schonenderen Stütztechnik auf "60 bis 70 Zentimeter" beziffert. Die könnte Storl also theoretisch sogar noch draufpacken.

Der Weltrekord des Amerikaners Randy Barnes aus dem Jahr 1990 liegt bei 23,12 Metern, der deutsche Rekord des Berliners Ulf Timmermann von 1988 bei 23,06 Metern. Storl fühlt sich von den Rekordhaltern nicht betrogen, weil deren Bestleistungen aus einer dopingträchtigen Zeit stammen. "Die haben auch trainiert und nicht zu wenig. Sie haben sich ja nicht hingesetzt, irgendwelches Zeug gefressen und 23 Meter gestoßen. Es war eben eine andere Zeit", sagte Storl. Dabei beschäftigt er sich eh kaum mit seinen Mitbewerbern, für ihn zählt nur die eigene Leistung. "Wenn ich in Zürich 22 Meter weit stoße, ist mir der Platz fast egal", sagte er: "Früher habe ich mir viel mehr Druck gemacht. Heute gehe ich in jeden Wettkampf, um Spaß zu haben." Spaß eben - so wie in den matschigen Wäldern rund um Kienbaum. Vize-Weltmeister Michael Schrader wurde nach einer Verletzung nicht mehr fit, Titelverteidiger Pascal Behrenbruch scheiterte in der Qualifikation. Aber auch ohne die Aushängeschilder der vergangenen Jahre peilen die deutschen Zehnkämpfer bei der EM in Zürich heute und morgen den großen Coup an. Kai Kazmirek (8471 Punkte) und Rico Freimuth (8356), derzeit die Nummern eins und zwei in Europa, kämpfen um Gold.

"Jetzt müssen sie liefern. Mindestens eine Medaille muss her, alles andere wäre eine Enttäuschung", sagte Frank Busemann , der 1996 sensationell Olympia-Silber geholt hatte: "Die Chancen waren selten so gut." Selbst dem Ulmer Arthur Abele, mit 8139 Zählern Zwölfter der Meldeliste, traut Busemann den Sprung nach ganz vorne zu: "Alle drei können richtig was reißen."

Allen voran Kazmirek. Der 23-Jährige von der LG Rhein-Wied legte im österreichischen Götzis einen richtig starken Wettkampf hin. Doch der Polizeikommissar-Anwärter will sich nicht unter Druck setzen lassen und stapelt so tief, wie es nur geht. In der Schweiz wolle er vor allem "Spaß haben und Erfahrungen sammeln".

Zu seinen größten Konkurrenten zählen der 22 Jahre alte Franzose Kevin Mayer (8323), der unberechenbare Vize-Europameister Eelco Sintnicolaas aus den Niederlanden (8161) und die Wundertüte Andrei Krauchanka. Der Weißrusse ist an manchen Tagen Welt- und dann wieder nur Kreisklasse. 2014 hat der Olympia-Zweite von Peking noch keinen Zehnkampf beendet. Christina Obergföll kümmert sich in Offenburg um Söhnchen Marlon, die Russin Jelena Issinbajewa genießt in Monaco die ersten Tage mit ihrem Töchterchen, Raphael Holzdeppe pflegt in Zweibrücken seinen maladen Rücken: Die heute beginnende Leichtathletik-EM in Zürich leidet unter Stararmut - und besonders die deutsche Mannschaft reiste dezimiert in die Schweiz .

Nicht immer ist der Ausfallgrund dabei so erfreulich wie bei Speerwurf-Weltmeisterin Obergföll. "Ich nehme mir eine Auszeit, um voll und ganz meine kleine Familie zu genießen und um einfach nur Mama zu sein", sagte die 32-Jährige. Dafür eignet sich eben ein Übergangsjahr ohne Olympia oder WM bestens - für den Kinderwunsch kann man ruhig einmal eine Europameisterschaft sausen lassen. Obergföll, die mit der saarländischen Speerwurf-Legende Boris Obergföll (geborener Henry) verheiratet ist, liegt damit voll im Trend: 2014 hat in der europäischen Leichtathletik ein regelrechter Baby-Boom einsetzt, und die EM in Zürich bekommt dies zu spüren: Jennifer Oeser, WM-Dritte im Siebenkampf von 2011, ist schwanger, 2,06-Meter-Hochspringerin Ariane Friedrich ebenso. "Mit 30 Jahren ist Ariane in einem Alter, in dem man mal an die Familie denken kann", sagte Friedrichs Trainer Günter Eisinger: "Vielleicht gibt das ihrer Karriere ja nochmal einen Schub."

Obergföll, Oeser, Friedrich: Ihnen ist gemein, dass sie ihre Karriere 2015 fortsetzen wollen. Das gilt auch für Stabhochsprung-Königin Issinbajewa, die im Juni Mutter einer Tochter geworden ist. Auch Speerwerferin Maria Abakumowa, 2013 in Moskau WM-Zweite hinter Obergföll, hat die Familienplanung in den Vordergrund gestellt - bei der Russin wurden es sogar Zwillinge. Weniger erfreulich sind andere Absagen aus dem deutschen Lager. Der verletzungsgeplagte Stabhochsprung-Weltmeister Raphael Holzdeppe vom LAZ Zweibrücken fand nie richtig in die Saison und beendete sie. Sein ebenfalls angeschlagener Kollege Björn Otto, Olympia-Zweiter von London, konnte keinen Wettkampf bestreiten. Fast noch übler erwischte es die deutschen Stabhochspringerinnen: Für Silke Spiegelburg, Martina Strutz und Kristina Gadschiew, drei potenzielle EM-Mitfavoritinnen, endete die Saison früh mit schweren Blessuren. Und der ehemalige Saarbrücker Matthias de Zordo , Speerwurf-Weltmeister von 2011, hat sich immer noch nicht von seinem im Mai 2013 erlittenen Achillessehnenriss erholt.

Dass ein Weltmeister-Titel in Moskau 2013 nicht unbedingt ein Glücksbringer sein muss, erlebte nicht nur Holzdeppe. Tschechiens 400-Meter-Hürdenstar Zuzana Hejnova kapitulierte kurz vor der EM vor einer Sehnenverletzung, Russland angeschlagene Hochsprung-Weltmeisterin Swetlana Schkolina packte 2014 erst gar nicht die Sportschuhe aus.

Ein völlig gebrauchtes Jahr erwischte Frankreichs Dreisprung-Weltmeister Teddy Tamgho. Der Hallen-Weltrekordler, der in Moskau mit grandiosen 18,04 Meter siegte, hat es mit seiner Disziplin in Sachen Dopingkontrollen nicht ganz so genau genommen und ist vom nationalen Verband für ein Jahr gesperrt worden.

Zum Thema:

Am RandeDiskus-Olympiasieger Robert Harting führt die "DLV-Rasselbande" bei der Leichtathletik-Europameisterschaft in Zürich als Kapitän an. Das gab Thomas Kurschilgen, Sportdirektor des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), gestern bekannt. "Robert ist dieser Aufgabe bereits bei der Team-EM in Braunschweig mit Bravour nachgekommen. Er ist ein Kapitän, an dem sich die Mannschaft aufrichten kann", sagte Kurschilgen. Der 29 Jahre alte Harting peilt in Zürich seinen fünften großen Titel in Serie an. Der Altersdurchschnitt der deutschen Mannschaft in der Schweiz beträgt nur 25,2 Jahre. "Dies ist das jüngste DLV-Team seit 1990 bei einer EM", sagte Kurschilgen: "Eine Medaillen-Vorgabe gibt es nicht." Stattdessen solle die Mannschaft mit Mut, Leidenschaft und Entschlossenheit in die Wettbewerbe gehen. sid

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