Köpfchen statt SpickzettelEin verschworener Haufen ohne Anführer

Danzig. Die Fußball-Weisheit, dass in der K.o.-Phase das Turnier praktisch neu beginnt, trifft bei der Europameisterschaft besonders auf Manuel Neuer zu. Die deutsche Nummer eins hatte in der Vorbereitung auf das Viertelfinale gegen Griechenland heute (20.45 Uhr/ZDF) deshalb Mehrarbeit zu leisten. "Natürlich gehe ich davon aus, dass wir das Spiel in 90 Minuten gewinnen

Danzig. Die Fußball-Weisheit, dass in der K.o.-Phase das Turnier praktisch neu beginnt, trifft bei der Europameisterschaft besonders auf Manuel Neuer zu. Die deutsche Nummer eins hatte in der Vorbereitung auf das Viertelfinale gegen Griechenland heute (20.45 Uhr/ZDF) deshalb Mehrarbeit zu leisten. "Natürlich gehe ich davon aus, dass wir das Spiel in 90 Minuten gewinnen. Aber davon sind die Russen in ihrem letzten Gruppenspiel auch ausgegangen. Für den Fall der Fälle muss ich mich also auch auf ein Elfmeterschießen vorbereiten", sagte der 26-Jährige.Der Torwart des FC Bayern München hatte in den Gruppenspielen Deutschlands gegen Portugal (1:0), die Niederlande (2:1) und Dänemark (2:1) nur selten die Gelegenheit, seine Klasse unter Beweis zu stellen. Zu sicher war die deutsche Abwehr in den meisten Fällen. Es spricht für seine Klasse, dass er dennoch in den wenigen brenzligen Situationen quasi kalt das Beste vom Besten in seinem Repertoire auspackte. Gegen Portugal rettete er den Sieg kurz vor Schluss gegen Silvestre Varela, gegen die Niederlande gegen Weltklasse-Stürmer Robin van Persie, gegen die Dänen beim Stand von 1:1 gegen Nicklas Bendtner. "Es ist für einen Torhüter nie leicht, wenn er erst so spät im Spiel den ersten schwierigen Ball halten muss", sagt Neuer dazu.

Er liebt aber diese Situationen, das Duell Mann gegen Mann, das blitzschnelle Erfassen der Szene - und die mentale Konfrontation mit dem Gegner. Handlungsschnelligkeit gehört zu Neuers großen Stärken. Gegen Dänemark sorgte er mit einem waghalsig erscheinenden Ausflug für Aufsehen, als er weit vor dem eigenen Kasten den Ball vor Bendtner erreichte und dann auch noch relativ verwertbar in die Offensive brachte. Er habe in dieser Situation gesehen, dass Lars Bender den Dänen wahrscheinlich nicht mehr stoppen würde. "Deswegen musste ich raus und eingreifen. Sonst wäre der Däne im Eins gegen Eins auf mich zugelaufen. Hätte ich aber gesehen, dass es knapp werden würde, dann hätte ich den Ball ins Aus geschossen. Es war aber nicht knapp, deswegen habe ich versucht, den Ball gleich wieder zu Mario Gomez zu spielen", sagte Neuer. Es hört sich einfach an, wenn der Schlussmann seine Spielweise beschreibt. Den deutschen Fans in Lemberg aber stockte schon der Atem, Bundestrainer Joachim Löw dürfte etwas mulmig gewesen sein - auch wenn er es nicht zeigte, wie Neuer berichtete: "Er hat jedenfalls nicht gemeckert, das ist schon ein gutes Zeichen."

Beim Viertelfinale gegen Griechenland, bei dem Löw personell aus den Vollen schöpfen kann, werden die Anforderungen an Neuer aber erweitert. Die Leidenschaft und der bedingungslose Einsatz der Griechen könnte die eigene Mannschaft stark fordern. Selbst ein Elfmeterschießen schließt Neuer nicht aus. "Auf der Linie mache ich mich so groß wie möglich. Ich konzentriere mich ausschließlich auf den Schützen, beobachte ihn bis zum Schluss und reagiere erst dann", sagt er.

Nun bereitete er sich mit Torwarttrainer Andreas Köpke auf die möglichen griechischen Schützen vor. Die dürften kein großes Interesse daran haben, in ein Elfmeterschießen mit Neuer zu gehen. Einen Spickzettel wie Jens Lehmann bei der WM 2006 hat er nicht. "Ich benutze nie einen Spickzettel. Vor den Spielen schaue ich mir noch mal alle möglichen Schützen in der Datenbank an", erklärte Manuel Neuer: "Dann speichere ich alles im Kopf ab."Danzig. In die Augen gucken, nicht blinzeln, nicht zucken. So machen es echte Männer im Duell. Und es ist kein Zufall, dass die Griechen es ständig tun. "Wir werden den Deutschen in die Augen schauen", sagt Bremens Innenverteidiger Sokratis, "wir haben Respekt, aber keine Angst". Einen Tag später wiederholt es Mittelfeldspieler Ioannis Maniatis fast wortgleich: in die Augen schauen, Respekt, keine Angst.

Das mit dem festen Blick ist eine verbreitete Redensart im Griechischen, sie bedeutet: keine Angst. Die Griechen blicken einer Menge Bedrohungen in die Augen, aber ihre Fußballer können das besonders eindrucksvoll. Und sie sind - wie damals beim Titelgewinn 2004 - eine schon äußerlich ziemlich unerschrockene Truppe. Die Mannschaft könnte fast durch die Bank in einem Italo-Western mitspielen. All die Dreitage-Bärte, harten Blicke und sehnigen Arme: Diese Männer, kein Zweifel, könnten jederzeit den Treck verteidigen, Rinder bändigen und Banditen aus der Stadt jagen. Vielleicht können sie auch die Deutschen bei der EM in die Flucht schlagen.

Ober-Schlitzohr Gekas

Auf die Deutschen kommt heute optisch wie charakterlich einiges zu. Etwa Stürmer Giorgos Samaras mit dem wilden Blick, der oft aussieht, als wäre der nächste Schritt sein letzter, bevor er den Ball aus einem Gewühl hervorstochert und etwas Unorthodoxes mit ihm anfängt. Oder Ober-Schlitzohr Theofanis Gekas, der Wühler, der deutsche Erst- und Zweitliga-Verteidiger jahrelang in Sicherheit wog, bevor er zustach. Oder Angreifer Nikos Liberopoulos, der mit seinen 36 Jahren Rudi Völler immer ähnlicher wird, aber noch torgefährlicher aussieht.

Der stärkste Charakterkopf fehlt: Kapitän Giorgos Karagounis, der mit seinem Tor die Russen nach Hause schickte. Sein mimischer Amoklauf nach der zweiten Gelben Karte gegen die Russen ist ein Hit auf der Internet-Plattform "YouTube".

Ihrem Trainer Fernando Santos, der Ähnlichkeit mit dem Western-Helden James Coburn hat, gefällt, was er da hört und sieht. Denn seine Griechen leben nicht schlecht mit ihrem Bild. Es ist ein radikaler Gegenentwurf zu den eleganten Spaniern, die bei Gelegenheit intellektuell anspruchsvolle Interviews geben, oder zu den musterschülerhaften Deutschen, die jetzt auch inspirierten Kombinations-Fußball am besten können wollen. Die Griechen geben sich cool, lässig und gefährlich, was sie zweifellos auch sind, und pflegen ihren Desperado-Eindruck eines verschworenen Haufens, der sich gegen alle Wahrscheinlichkeit durch jede Gefahr schlägt. dapd

"Vor den Spielen schaue ich mir alle Schützen in der Datenbank an."

Manuel Neuer

Auf Einen Blick

Deutschland gegen Griechenland - die voraussichtlichen Aufstellungen für das Viertelfinale (heute, 20.45 Uhr/ZDF):

Deutschland: Neuer (26 Jahre/29 Länderspiele) - Boateng (beide Bayern München/23/23), Hummels (Borussia Dortmund/23/17), Badstuber (23/23), Lahm (beide München/28/89) - Khedira (Real Madrid/25/30), Schweinsteiger (27/93) - Müller (beide München/22/30), Özil (Madrid/23/36), Podolski (1. FC Köln/27/100) - Gomez (München/26/55). Griechenland: Sifakis (Aris Saloniki/27/14) - Torosidis (Olympiakos Piräus/27/47), Sokratis (Werder Bremen/24/30), Kyriakos Papadopoulos (Schalke 04/20/11), Tzavellas (AS Monaco/24/6) - Katsouranis (Panathinaikos Athen/32/94), Maniatis (Piräus/25/12) - Salpingidis (Paok Saloniki/30/59), Makos (AEK Athen/25/12), Samaras (Celtic Glasgow/27/57) - Gekas (Samsunspor/32/61). Schiedsrichter: Skomina (Slowenien). Direkter Vergleich: 5 Siege, 3 Unentschieden, keine Niederlage. Letztes Spiel: 28. März 2001 in Athen, 4:2 (WM-Qualifikation). dpa

Am Rande

Ioannis Maniatis droht ein Terminproblem. Der defensive Mittelfeldspieler der griechischen Nationalmannschaft will am 1. Juli heiraten. Für den Fall, dass sich Griechenland heute im Viertelfinale gegen Deutschland durchsetzt, könnte es für Maniatis eng werden. Dann wären die Griechen nur noch einen Sieg vom Endspiel entfernt. Und das steigt am 1. Juli in Kiew, dem Tag seiner geplanten Hochzeit.

"Er hat diesen Termin vor eineinhalb Jahren geplant. Da konnte er noch nicht wissen, dass wir bei der EM dabei sind", kommentierte Mitspieler Konstantinos Katsouranis. Schmunzelnd fügte der Europameister von 2004 hinzu: "Er wird nicht da sein." Dabei ließ er jedoch offen, ob er die Hochzeit oder das Finale meinte. dpa

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