Keine Albträume dank guter Nachbarn

Évian-les-Bains · Gewinnt Deutschland am Donnerstag gegen Polen, ist der Achtelfinaleinzug bei der EM sicher. Grundlage dafür war der 2:0-Sieg gegen die Ukrainer am Sonntag. Der kam vor allem dank guter Nachbarn zu Stande.

 Eine Rettungsaktion für die Geschichtsbücher der Europameisterschaften: Jérôme Boateng klärt spektakulär auf der Linie. Foto: Thew/dpa

Eine Rettungsaktion für die Geschichtsbücher der Europameisterschaften: Jérôme Boateng klärt spektakulär auf der Linie. Foto: Thew/dpa

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Gegen 4 Uhr gestern Morgen rollt der Bus der Nationalmannschaft auf die schicke Einfahrt des Hotels Ermitage in Évian. Die Spieler schälen sich aus dem schwarzen Luxusliner, trollen sich durch die Lobby hoch in ihre gemachten Betten. Dort dürfte kein Spieler sportliche Albträume erlebt haben, im Gegenteil. Der 2:0-Auftaktsieg in Lille bei der Fußball-EM in Frankreich gegen die Ukraine am Sonntag war zwar nicht frei von Abgründen, aber beruhigend. "Wir sind sehr, sehr erleichtert, dass wir einen guten Start hingelegt haben", erklärte Linksverteidiger Jonas Hector bereits im Bauch des Stade Mauro. Dabei gab der Auersmacher auch zu, dass "wir in der ersten Halbzeit nicht so gut verteidigt haben".

Das sahen nicht nur die 26,57 Millionen deutschen TV-Zuschauer so, sondern auch Bundestrainer Joachim Löw : "Es war schon einige Male gefährlich für uns." Vor allem die Außenverteidiger Hector und Benedikt Höwedes standen "zu hoch", also zu weit vorne, wenn die Ukrainer bei deutschen Ballverlusten über ihre schnelle Außenspieler Jewgeni Konopljanka und Andrej Jarmolenko Konter setzten.

Doch Deutschland hat ja einen Welttorhüter in der Kiste. Manuel Neuer fischte den Schuss von Konopljanka (4. Minute) aus dem Winkel und lenkte den Kopfball von Jewgeni Chatscheridi (27.) über die Latte. Und da ist ja noch Jérôme Boateng . "Der Ball kam scharf in die Mitte, ich hab ihn berührt, fast ins eigene Tor gelenkt", erklärte der Innenverteidiger die Szene des Spiels in der 36. Minute. "Ich musste mich irgendwie schnell drehen und ihn rausschlagen. Vielleicht hat es auch nur geklappt, weil ich so lange Beine habe", schilderte Boateng seine Rettungstat beim Stand von 1:0 für Deutschland.

"Es ist gut, wenn man einen Jérôme als Nachbarn hat in der Abwehr", sagte der Bundestrainer . Damit hatte Löw AfD-Politiker Alexander Gauland noch einen mitgegeben, der behauptet hatte, dass viele Deutsche Boateng nicht gerne als Nachbarn hätten. In Gaulands windungsbefreitem Hirn wohl auch nicht Shkodran Mustafi , dessen Familie ihre Wurzeln in Albanien hat. Mustafi spielte für den rekonvaleszenten Mats Hummels in der Innenverteidigung und traf nach Flanke des starken Toni Kroos per Kopf zum 1:0 (19.). "In erster Linie war es wichtig, meinen Job zu machen und das Vertrauen zurückzugeben", sagte der 24-Jährige in Lille - übrigens in Deutsch, Englisch und Italienisch.

"Im Laufe des Spiels haben es die Außen immer besser gemacht", lobte Löw, der auch sah, dass Stürmer Mario Götze keinen Torschuss verbuchen konnte. Was nicht weiter schlimm war, da die Ukraine in Halbzeit zwei kaum mehr etwas zu melden hatte und nur noch zuschauen konnte, wie Bastian Schweinsteiger in der Nachspielzeit das 2:0 erzielte. Damit steht fest, dass die Elf unter Löw bisher jedes Turnier-Auftaktspiel ohne Gegentor gewonnen hat. Wie wir wissen, ist sie daraufhin mindestens bis ins Halbfinale eingezogen.

Doch so weit ist es hier noch nicht. Eine Entscheidung zum Achtelfinaleinzug könnte aber am Donnerstag fallen, wenn die Jungs von Évian nach Paris reisen, um im Stade de France gegen Polen zu spielen (21 Uhr/ZDF). Ein Sieg, und die Deutschen sind vorzeitig durch die Gruppenphase geschifft. "Von der Spielanlage her sind die Polen der Ukraine sehr ähnlich", sagte Löw: "Das wird ein harter Kampf werden."

An dem kann wohl auch Mats Hummels wieder teilnehmen, seine Muskelverletzung ist ausgeheilt. "Es sieht gut aus", sagte der 27-jährige Innenverteidiger, der dennoch gut schlafen könnte, wenn er nicht von Beginn an spielen wird: "Ich bin keiner, der auf der Bank sitzt und sich ärgert. Shkodran hat super verteidigt und ein Tor geschossen." Und auch er hat sicher gut geschlafen. Drei Minuten nach seiner Einwechslung erzielte er das erlösende 2:0 gegen die Ukraine. Mit seinem zweiten Ballkontakt in Minute 92. "Bastian Schweinsteiger , Fußball-Gott", sangen die Fans in der Kurve in Lille am Sonntagabend. "Es tut einfach gut, wenn die Menschen so reagieren", sagte der Mittelfeldstratege nach dem EM-Auftaktsieg.

Er war glücklich. Kein Wunder: Die Saison des 31-Jährigen war wieder einmal von Verletzungen zersetzt. "Unglaublich, dass es sowas gibt, das kann man sich nur wünschen. Ich habe in diesem Jahr nur 300 Spielminuten in den Knochen - und dann sowas", staunte der älteste Akteur des deutschen EM-Kaders selbst. Genau deshalb legte er einen fulminanten Jubelsprint hin, der in den Armen von Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt endete. Der Nationalmannschaftsarzt hatte ihn nach einer Knieverletzung wieder fit gemacht. "Es war gar nicht geplant, dass er soweit vorne auftaucht. Er sollte für Absicherung sorgen", meinte Bundestrainer Joachim Löw : "Es freut mich natürlich sehr, dass er nach der Schufterei so eine tolle Rückkehr feiert. Ich denke, das Tor gibt Bastian und auch uns allen Auftrieb."

Es war sein erstes Turniertor seit 2008. Damals, bei der EM in Österreich und der Schweiz, hatte er noch blondiertes Haar, galt als unstetes Talent. Inzwischen führte er Deutschland zum Weltmeistertitel (2014), und seit Sonntag ist er mit 14 Einsätzen neben Philipp Lahm der Spieler mit den meisten EM-Endrundenauftritten im ganzen Land. Und hat graue Schläfen. Nicht nur deshalb kostete er den Jubel der Fans aus. Es war auch sein erster Schritt in Richtung Startelf. "Wir brauchen ihn", sagte Manuel Neuer : "Er bringt die Ordnung in unser Spiel." Ex-Bayern-Kollege Jérôme Boateng hofft auch, dass "er in nächster Zeit noch fitter wird und an die 100 Prozent kommt".

Denn Schweinsteiger kann ein ganz wichtiger Mann werden bei dieser EM. Keiner, der nur aus Rücksicht auf seine Verdienste in der Vergangenheit auf dem Platz steht, sondern weil er helfen kann, weil er wichtig sein kann auf der Position vor der Abwehr. Nach seinem 116. Länderspiel stellte er aber keinerlei Ansprüche. "Ich hoffe, dass ich jetzt peu à peu mehr spielen kann", meinte er und strahlte.

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