Junger Österreicher düpiert die Weltspitze

Garmisch-Partenkirchen · Noriaki Kasai (41) springt, seit er denken kann. Aktuell nimmt der Japaner an seiner 23. Vierschanzentournee teil und gehört noch immer zur Weltspitze. Und trotz seines hohen Alters hat Kasai noch anspruchsvolle Ziele.

Ein Nobody erobert die Schanzen der Welt. Während die deutschen Skispringer auch bei der zweiten Station der 62. Vierschanzentournee hinter den Erwartungen zurückblieben, ist der 21 Jahre alte Thomas Diethart mit seinem ersten Weltcup-Sieg überhaupt an die Spitze der Gesamtwertung gestürmt. Vor 21 000 Zuschauern in Garmisch-Partenkirchen flog der Österreicher, der erst am 21. Dezember sein Weltcup-Debüt gegeben hatte, gestern auf 141 und 140,5 Meter und gewann mit 296,1 Punkten vor Landsmann Thomas Morgenstern (284,9) und Oberstdorf-Sieger Simon Ammann (278,5) aus der Schweiz. "Das ist ein Wahnsinn. Ich bin überwältigt, das ist ein geiles Gefühl", sagte Diethart.

In der Gesamtwertung führt Diethart mit 593,4 Punkten vor Morgenstern (581,9) und Ammann (580,4). Aufatmen darf damit auch Sven Hannawald: Der 39-Jährige bleibt mindestens für ein weiteres Jahr der einzige Skispringer mit Siegen auf allen vier Schanzen. Titelverteidiger Gregor Schlierenzauer, der Dominator der vergangenen Jahre, wurde gestern nur Achter.

Severin Freund, der als Mitfavorit in die Tournee gegangen war, verpasste als 32. sogar den zweiten Durchgang. "Es hat wieder nicht gereicht, das ist schade. Ich hatte eigentlich gehofft, in einer besseren Form und stabiler zur Tournee zu kommen", sagte der Niederbayer. Bundestrainer Werner Schuster betonte, Freund sei "auch nur ein Mensch".

Mit hängenden Schultern verließ Freund die Arena. "Ich bin einfach schlecht gesprungen, nicht auf meinem Niveau. Ich muss versuchen, da im restlichen Saisonverlauf wieder hinzukommen. Aber die Welt geht nicht unter", sagte er. "Bei Severin gibt es individuelle Probleme", erläuterte Trainer Schuster: "Er muss damit leben, dass er die Schanze ein anderes Mal bezwingen muss."

Mehr Freude hatte Schuster an Oldie Martin Schmitt und Youngster Andreas Wellinger. Schmitt (35) sammelte in seinem vermutlich letzten großen Wettkampf als 27. erstmals in dieser Saison Weltcup-Punkte. Wellinger (18) zeigte nach seinem enttäuschenden 29. Platz in Oberstdorf nun eine deutliche Leistungssteigerung und kratzte als Fünfter und bester Deutscher sogar am Podest. "Wir sind als Team stark und auf dem richtigen Weg", meinte Wellinger zufrieden.

Ebenfalls in die Top 10 schaffte es Richard Freitag als Neunter. "Das war noch einmal eine Steigerung. Ich bin froh, dass mir das gelungen ist", sagte der Sachse. Marinus Kraus, in Oberstdorf als Achter noch bester Deutscher, verpasste wie Freund den zweiten Durchgang.

Insgesamt war Werner Schuster nach dem verpatzten Auftakt zumindest mit dem Team-Ergebnis halbwegs zufrieden. Derzeit gebe es aber "ein Problem", sagte der Österreicher: "Wir haben keine Hierarchie im Team. Diese muss sich wieder einstellen." Routinier Michael Neumayer ist als Elfter derzeit überraschend bester Deutscher in der Gesamtwertung. Er springt und springt und springt. Noriaki Kasai ist 41 Jahre alt, aber er kann einfach nicht aufhören. Warum auch? Der Japaner nimmt derzeit an seiner 23. Vierschanzentournee teil, und er gehört noch immer zur Weltspitze. "Ich kann doch gar nicht aufhören", sagt Kasai: "Mir fehlt noch Gold bei Olympia und einer Weltmeisterschaft."

Wer mehr von Kasai erfahren will, hat es dagegen schwer. Auch nach all den Jahren im Weltcup spricht der Oldie noch immer nur drei Brocken Englisch, lange Fragen beantwortet er gerne mit einem knappen "Yes" oder "Happy". Dann lacht er kurz. Manchmal ist Japans Co-Trainer Hideharu Miyahira in der Nähe. Das hilft, Miyahira lernt seit drei Jahren Deutsch.

Sätze, die Kasai inzwischen auswendig kann, sind dagegen folgende: "Ich möchte noch zehn Jahre springen", "Ich fühle mich noch immer jung", "Ich habe noch immer Spaß". Und Spaß beflügelt offensichtlich, Kasai holt noch immer Top-Platzierungen. "Er war immer schon ein mutiger Springer und fliegt gigantisch. Er hat das Zeug dazu, noch einen Wettkampf zu gewinnen", sagt Bundestrainer Werner Schuster.

Das Verrückte ist: Kasai ist nicht einmal der älteste Japaner bei der Tournee. Teamkollege Takanobu Okabe ist sogar 43 Jahre alt, allerdings längst nicht so gut wie Kasai. "In Japan ist das so: Wenn ein Junger und ein Alter gleich gut sind, erhält der Alte den Vorzug", sagt Schuster über die Mentalität der Asiaten und fügt mit einem Augenzwinkern hinzu: "Martin Schmitt wäre auch gerne Japaner."

Jener Martin Schmitt ist 35, früher sprang er auf Augenhöhe mit Kasai, heute zieht er den Hut vor dem Japaner. "Der Nori ist im Moment in einer Wahnsinnsform. Er springt einfach gut und ist körperlich recht gut in Schuss für sein Alter", sagt der deutsche Routinier. Fast klingt es ein wenig neidisch, wenn Schmitt sagt: "Er hat Selbstbewusstsein, und da ist er in der Situation eines 20- oder vielleicht 30-Jährigen."

Kasais größte Erfolge liegen freilich schon zwei Jahrzehnte zurück. 1992 war er Skiflug-Weltmeister, 1993 Zweiter der Vierschanzentournee, knapp geschlagen von Andreas Goldberger. Schwer verletzt war er eigentlich nie, in Garmisch-Partenkirchen bestritt er gestern den 435. Weltcup seiner Karriere und wurde Sechster. Und in Sotschi warten seine siebten Winterspiele - das hat bislang kein anderer Sportler geschafft.

Wie fast alle Japaner ist Kasai bei einem Firmenteam angestellt, er springt für das Wohnungsbau-Unternehmen Tsuchiya Holdings. Wenn er etwas gewinnt, wird sein Gehalt verdoppelt. Das war zuletzt aber nicht immer der Fall. "Er ist fünf Jahre lang mitgedümpelt zwischen den Plätzen 33 und 38, jetzt hat er seine Fehler abgestellt", sagt Schuster.

Und so macht Noriaki Kasai eben einfach weiter. Wie er sich fühle, wurde er nach seinem sechsten Platz in Oberstdorf gefragt. "Happy", sagte Kasai und ging seines Weges.

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