Im Schatten der Gefallenen

Otzenhausen. Kaum ein Tag, der ohne skandalträchtige Dopingmeldung vergeht. Egal ob Jan Ullrichs Flüge zum Madrider Dopingarzt Fuentes oder Claudia Pechsteins Verhandlung vor dem Sportgerichtshof: Die Medien sind voll von großen Namen unter Verdacht. Doch hinter den Skandalmeldungen droht der Kern des Problems zu verschwinden

Otzenhausen. Kaum ein Tag, der ohne skandalträchtige Dopingmeldung vergeht. Egal ob Jan Ullrichs Flüge zum Madrider Dopingarzt Fuentes oder Claudia Pechsteins Verhandlung vor dem Sportgerichtshof: Die Medien sind voll von großen Namen unter Verdacht. Doch hinter den Skandalmeldungen droht der Kern des Problems zu verschwinden. "Die Medien stellen mehr die Personen in den Fokus statt Hintergründe und Strukturen. Durch die Enthüllung findet gleichzeitig wieder eine Verhüllung der größeren Zusammenhänge statt", sagt Peter Dewald, Sportsoziologe an der Universität Würzburg. "Durch die Tendenz zum Skandal und dazu, Einzelpersonen an den Pranger zu stellen, dient die Berichterstattung letztlich nicht immer der Aufklärung."

Und so kommt es, dass ein gar nicht mal so kleiner Teil der Öffentlichkeit die tiefe Verwurzelung und die Folgen des Problems offenbar noch nicht erfasst hat. "Zum Beispiel durchdringen viele Zuschauer nicht, dass das Problem gesellschaftlich viel tiefer geht: Wie gehe ich mit Medikamenten und Leistung um? Und dass hier auch Verbindungen bestehen zu unserer gesellschaftlichen Fortschrittsausrichtung", sagt Dewald. Ex-Radprofi Bernhard Kohl (Foto: rup) will mit seinem Geständnis und der monatelangen Tour durch die Medien bewirken, dass die Öffentlichkeit einen Blick hinter die Kulissen bekommt. Aber auch der Österreicher weiß, dass für die Medien normalerweise nicht die unbekannten Amateure und Doping-Hintergründe interessant sind, sondern die Leute, die in der Öffentlichkeit stehen. Das seien nun mal immer Personen wie Ullrich und Pechstein.

"Wenn die Sportler das Doping dann abstreiten, ist es natürlich schwierig. Aber wenn ich auspacke, kann ich sagen, wie das ganze System läuft. Und dann bekommt die Bevölkerung schon einen Einblick, dass die Doper nicht nur schwarze Schafe sind", sagt Kohl im Gespräch mit der Saarbrücker Zeitung am Rande einer Doping-Tagung im saarländischen Otzenhausen in der Europäischen Akademie am vergangenen Wochenende. "Aber es wird immer nur der Sportler hingestellt. Dabei sollte mehr das System in Frage gestellt werden. Wie kommt der Sportler in die Situation? Unter was für einem Druck steht er?"

Auf der Tagung trafen auch vier geständige Radprofis aufeinander: Der ehemalige Schweizer Spitzenfahrer Rolf Jährmann, der Bronzemedaillengewinner im 1000-Meter-Zeitfahren von Seoul 1988 Robert Lechner, der erste Kronzeuge aus dem Amateurbereich Philip Schulz und eben Bernhard Kohl. In einer solchen Diskussion wird schnell deutlich, dass das Problem im Spitzensport systemisch verankert ist. Längst nicht nur im Radsport, auch im Schwimmen, in der Leichtathletik, im Triathlon oder im Skisport. Und mit leichten Abstrichen wohl auch in vielen anderen Sportarten. Doch zu selten werden Zusammenhänge auf solche Art hergestellt, zu oft bleibt die Berichterstattung am Einzelfall hängen.

Dopende Freizeitsportler

Dabei geht das Problem viel tiefer. Der italienische Sportwissenschaftler Sandro Donati rechnet den Handel mit Dopingsubstanzen weltweit auf über 15 Milliarden Euro hoch. Der weitaus größte Teil davon wird im Breitensport umgesetzt. In Deutschland ist die Zahl der Fitness-Studios und deren Kunden in den vergangenen Jahren extrem gestiegen. Mittlerweile haben die etwa 6000 Studios rund 4,5 Millionen Kunden. Eine Untersuchung der Universität Tübingen hat im vergangenen Jahr über 100 Fitness-Studios untersucht und geht davon aus, dass etwa zehn bis 15 Prozent der Studiobesucher verbotene Mittel konsumieren. Mischa Kläber von der TU Darmstadt geht gar von bis zu einer Million dopender Freizeitsportler allein in Deutschland aus.

Aber wo kommen diese Mittel her? "Wo mit Betäubungsmitteln gehandelt wird, wird auch mit klassischen Arzneimitteln, also Dopingmitteln, gehandelt", weiß Matthias Braasch, Kriminologe der Universität Gießen. Die Strukturen des Handels seien oft mafiös, die Drogen- und Dopingszene würden sich überschneiden. Oft stammten die Mittel aus der Türsteher-, Zuhälter- oder Pornobranche. Mittlerweile habe die russische Mafia große Teile des Dopinghandels im Griff, so Braasch. Aber auch asiatische Länder seien zunehmend beteiligt.

Viele Sportler besorgen sich ihre Mittel aber auch beim Arzt oder Apotheker oder bestellen ganz einfach per Internet rezeptfrei aus dem Ausland. Letzteres, glaubt Braasch, habe das Problem verschlimmert. Ein Beispiel, wie auch die Pharma-Industrie zum Problem beiträgt, ist das Wachstumshormon hGH, das eigentlich nur bei Kleinwüchsigkeit bei Kindern verabreicht wird. Dennoch gibt es in Deutschland laut Dopingexperte Horst Pagel von der Universität Lübeck rund ein Dutzend Firmen, die hGH vertreiben. Und weitere Formen des Mittels werden entwickelt. Das kostet mehrere Milliarden Euro. Wie viele kleinwüchsige Kinder in Deutschland pro Jahr geboren werden? Kaum mehr als 100. Die restlichen Mittel landen - so wird vermutet - im Sport. Ist Doping also ein gesamtgesellschaftliches Problem? "Viele Menschen sind heutzutage auf der Suche nach Einzigartigkeit, vor allem durch den Sport", sagt Soziologe Dewald. "Und bei der Suche nach dieser Einzigartigkeit können Medikamente eine große Rolle spielen." Der Leistungsdruck und die Fixierung auf den Körper seien gestiegen und es würden immer mehr Menschen auch Medikamente nehmen, um soziale Probleme zu lösen, sagt Dewald.

Doper am Arbeitsplatz

Nach verschiedenen Studien der vergangenen Jahre wirft sich beispielsweise jeder fünfte Professor und Student nicht indizierte Arzneimittel wie Ritalin oder Modafinil zur Leistungssteigerung ein. Unter den Studenten sind vor allem Mediziner und Juristen betroffen.

Der diesjährige Gesundheitsreport der Krankenkasse DAK geht von bis zu zwei Millionen Dopern am Arbeitsplatz aus. "Die Einnahme von Medikamenten", sagt auch Professor Horst Pagel von der Universität Lübeck, "ist ein gesellschaftlich akzeptiertes Bewältigungsverhalten." Hinter den groß aufbereiteten Dopingskandalen droht all dies zu verschwinden. "Wenn ich auspacke, kann ich sagen, wie das ganze System läuft."

Bernhard Kohl,

Ex-Radprofi

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