"Ich muss Zorn und Wut aufbauen"

Herr Kuntz, Sie haben 1996 mit der deutschen Nationalmannschaft den EM-Titel geholt. Welche Erinnerungen haben Sie an den 26. Juni, den Tag des Halbfinales gegen England?Stefan Kuntz: Es fing damit an, dass ich beim Aufwärmen im Wembleystadion ein bisschen enttäuscht war, weil dort alles doch schon sehr alt war

 Vor dem Finale der EM 1996 begrüßte die englische Königin Elizabeth II. Stefan Kuntz. Deutschland gewann das Finale nach Golden Goal von Oliver Bierhoff mit 2:1 gegen die Tschechen. FOTO: KUNZ

Vor dem Finale der EM 1996 begrüßte die englische Königin Elizabeth II. Stefan Kuntz. Deutschland gewann das Finale nach Golden Goal von Oliver Bierhoff mit 2:1 gegen die Tschechen. FOTO: KUNZ

Herr Kuntz, Sie haben 1996 mit der deutschen Nationalmannschaft den EM-Titel geholt. Welche Erinnerungen haben Sie an den 26. Juni, den Tag des Halbfinales gegen England?Stefan Kuntz: Es fing damit an, dass ich beim Aufwärmen im Wembleystadion ein bisschen enttäuscht war, weil dort alles doch schon sehr alt war. Der sogenannte Wembleyrasen war zwar guter Rasen, aber ich hatte mir da wahrscheinlich einfach etwas anderes drunter vorgestellt.

Das klingt ja sehr nüchtern - ist man als Weltklasse-Stürmer irgendwann so abgeklärt, dass man selbst in einem EM-Turnier allenfalls noch an die Platzverhältnisse denkt?

Kuntz: Nein, natürlich hatte ich trotzdem beim Aufwärmen ein sensationelles Gefühl, eine Art innere Euphorie. Außerdem wurden wir ja noch der Queen vorgestellt - ich kann mich aber nur noch daran erinnern, dass ich gedacht hab': "Die ist ja nicht so groß.. Danach bist du einfach in einem Tunnel drin, in dem es nur noch um die eigene Leistung geht. Bis zu diesem Moment . . .

Sie sprechen vom 1:1 in der 16. Minute - England hatte bereits in der 3. Minute vorgelegt. Deutschland rückt in den gegnerischen Strafraum vor, Pass von Andreas Möller auf Thomas Helmer, der legt quer, Sie rutschen in den Ball und versenken ihn aus acht Metern mit gestrecktem Bein . . .

Kuntz: . . . und wer Thomas Helmer kennt, der weiß, dass Helmer, wenn er aus der Drehung schießt, meist nicht ganz genau das Tor trifft. Deshalb war da für mich auch ein bisschen Spekulation entscheidend, dieses Antizipieren - da bist du eine Zehntelsekunde schneller und kannst dann den Ausgleich erzielen.

Wie fühlt man sich als Stürmer in solch einem Moment? War Ihnen bewusst, dass Sie einen entscheidenden Treffer erzielt hatten, der Ihr Team letztlich sogar ins Finale bringen würde?

Kuntz: Die Freude darüber kam zwar raus, aber du denkst in dem Moment nur, dass wir das Ding noch irgendwie gewinnen müssen, es war ja nur der Ausgleich. Und dann war da ja noch mein Treffer in der Verlängerung, der nicht gezählt hat.

Sie hatten den Ball in der 96. Minute nach einer Ecke von Möller eingeköpft, der Treffer wurde aber wegen eines Stürmerfouls nicht anerkannt. Es wäre das 2:1, das erste "Golden Goal" überhaupt, gewesen, das Sie endgültig zur Stürmerlegende gemacht hätte.

Kuntz: Ja, das war bitter in diesem Moment, weil du ja selbst weißt, dass es kein Foul war. Das Spiel wäre entschieden gewesen. Aber du hast gar keine Zeit, groß an der Situation zu verzweifeln, denn es geht ja noch weiter, das Spiel ist ja nicht zu Ende. Du kannst ja nicht aufhören, nur weil das Tor nicht zählt. Und es war zu spüren in der Mannschaft, dass da irgendwie die Einstellung herrscht, dass wir erst dann Ruhe geben, wenn wir im Finale sind. Und dann kam ja für mich noch das Elfmeterschießen, dieser fünfte Elfmeter.

Die "Angst des Torwarts beim Elfmeter" ist sprichwörtlich. Wie fühlt man sich als Schütze?

Kuntz: Ich muss sagen, dass ich ein sehr mulmiges Gefühl im Magen hatte. In solchen Situationen hat dann ja jeder seine eigene Angst-Bekämpfungsmethode.

Wie sieht denn Ihre aus?

Kuntz: Ich muss Zorn und Wut aufbauen. Und habe mir damals vorgestellt, wie meine Kinder am nächsten Tag die Clowns der Schule werden, wenn der Vater den entscheidenden Elfmeter versemmelt.

Die Methode scheint zu funktionieren - Sie haben getroffen.

Kuntz: Ja. Das hat man dann nachher am Jubel gesehen, denn ich konnte in dem Moment noch gar nicht jubeln, ich hatte da noch so viel Zorn und Wut in mir aufgestaut, weil ich mich so auf dieses Gefühl konzentriert hatte. Aber das war unbestritten der größte Tag in meinem Fußballer-Leben.

Seit der EM 1996 sind fast zwei Jahrzehnte vergangen; das Spiel hat sich seitdem zum Teil sehr verändert. Der klassische Mittelstürmer ist selten geworden. Würden Sie sich selbst heute noch als Stürmer verpflichten?

Kuntz: Ich war ja meistens einer von zweien im Sturm. Und heute mit dem linken Fuß hätte ich eh noch Vorteile - Linksfüßer sind ja immer etwas seltener und werden gerne verpflichtet. Und ich glaube, ganz so untypisch wäre meine Spielweise auch heute noch nicht.

Gibt es Dinge, die Ihnen heute Probleme bereiten würden?

Kuntz: Schwierigkeiten hätte ich vermutlich mit dem Tempo und der Athletik. Da haben sich die Anforderungen in den letzten 16 Jahren schon extrem entwickelt. Das war zu unserer Zeit ein bisschen anders.

> wird fortgesetzt

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