Handball-WM „Wollen unsere eigene Geschichte schreiben“

Hamburg · Der Handball-Bundestrainer spricht eine Woche vor dem Start der Heim-WM über das Wintermärchen 2007 und die Ziele 2019.

 Nach der verpatzten EM in Kroatien steht Handball-Bundestrainer Christian Prokop bei der Heim-WM besonders im Fokus.

Nach der verpatzten EM in Kroatien steht Handball-Bundestrainer Christian Prokop bei der Heim-WM besonders im Fokus.

Foto: dpa/Danny Gohlke

Am heutigen Mittwoch beginnt für die deutschen Handballer mit dem Lehrgang in Hamburg die finale Vorbereitung auf die Heim-WM (10. bis 27. Januar). Dort will Bundestrainer Christian Prokop mit seiner Mannschaft um die Medaillen spielen. Im SZ-Interview spricht der 40-Jährige über seine Spieler, die Ziele und die Lehren aus der verpatzten EM 2018.

Herr Prokop, die Heim-WM steht vor der Tür. Wann wäre die WM für Sie eine erfolgreiche?

CHRISTIAN PROKOP Ich möchte klarstellen, dass wir sehr viel erreichen wollen, aber nichts müssen. Jeder Spieler hat bei dem Turnier eine ganz tolle Gelegenheit als Sportler und das Glück, gerade zum Zeitpunkt einer Heim-WM Nationalspieler zu sein. Das möchte jeder nutzen. Wir wollen erfolgreich und emotional spielen. Und wir möchten das Publikum von Anfang an begeistern, um eine Identifikation herzustellen. Das sind die weichen Ziele.

Und die harten?

PROKOP Hauptziel ist das Erreichen des Halbfinals. Das wäre ein Riesenerfolg, weil wir Mannschaften wie Kroatien, Russland, Frankreich und Spanien hinter uns lassen müssen. Dafür brauchen wir mentale und spielerische, aber auch charakterliche Top-Leistungen.

Für das Halbfinale benötigt man Weltklasse. Wieviel davon steckt im deutschen Kader?

PROKOP Als Mannschaft werden wir Weltklasse auf das Parkett bringen müssen. Wir werden nicht weit kommen, weil einzelne Spieler Spiele entscheiden. Dennoch ist es in Spielphasen durch Akteure wie unsere Torhüter Andreas Wolff und Silvio Heinevetter möglich, aber nicht über die komplette Zeit. Das A und O wird das Mannschaftsgefüge sein. Darüber hinaus haben wir am Kreis drei Spieler, die über das Prädikat Weltklasse verfügen.

Zur Problemzone könnte der Rückraum werden, vor allem nach dem Ausfall von Torjäger Julius Kühn. Wie können Sie seinen Ausfall kompensieren?

PROKOP Zum einen müssen wir das mannschaftlich auf die verschiedenen Positionen verteilen. Zum anderen haben wir mit Steffen Fäth einen sehr ähnlichen Spielertyp, der mit sehr viel Geschwindigkeit und seinen scharfen Würfen leichte Tore erzielen kann.

Ist die Rückholaktion von Martin Strobel, der nur noch in der 2. Liga bei HBW Balingen-Weilstetten spielt, ein Risiko?

PROKOP Nein, diese Entscheidung war und ist für mich alternativlos. Er ist ein sehr erfahrener Spieler, der mit sehr viel taktischer Intelligenz ausgestattet ist. Er kann unser Angriffsspiel den verschiedenen Spielphasen anpassen. Martin geht in Stress-Situationen mit breiter Brust voran und hat auch in der Abwehr seine Stärken. Zudem verbessert er das Zusammenspiel mit den Kreisläufern. Er ist ein zentraler Spieler für uns. Auf der Rückraummitte werden aber auch Fabian Wiede und Steffen Weinhold als Linkshänder immer mal einspringen. Ihr Spiel ist kreativer und für die Abwehr ein Stück weit weniger lesbar.

Für Sie selbst war die letzte EM mit Rang neun und einigen internen Differenzen eine harte Schule. Was haben Sie persönlich und die Mannschaft aus diesem Misserfolg gelernt?

PROKOP Damit lassen sich mehrere Seiten füllen. Da ist mit Sicherheit das Thema Kommunikation. Das heißt, sich regelmäßiger vor allem mit den Führungsspielern auszutauschen, ob das nun ein taktischer Abgleich ist oder ein Stimmungs-Feedback. Das habe ich intensiviert, nachdem ich solche Gespräche zuvor unterschätzt und viel zu selten geführt hatte. Ein zweiter Punkt ist das taktische Spielsystem, das ich mehr an die Stärken der Spieler angepasst habe, als dies in Kroatien der Fall war. Da war ich der Meinung, in kurzer Zeit vieles über den Haufen der Vergangenheit werfen zu können und vieles nur so zu machen, wie ich es für richtig hielt. Dennoch sind auch richtige Ansätze dabei, die erst über einen längeren Zeitraum entwickelt werden können.

Sind aus Ihrer Sicht alle Differenzen von der EM ausgeräumt, oder haben Sie das Gefühl, dass bei einem Misserfolg doch noch einmal etwas aufbrechen könnte?

PROKOP In meinen Augen ist alles auf den Tisch gelegt und von allen Seiten offen und klar drüber gesprochen worden. Jeder möchte erfolgreich die Zeit in der Nationalmannschaft nutzen. Nicht nur bei der WM, sondern auch bei Lehrgängen. Denn diese Zeit ist für die meisten Nationalspieler sehr kostbar. Da will jeder in die gleiche Richtung gehen. Daran habe ich keinen Zweifel und bin vorsichtig optimistisch.

In der WM-Vorrunde geht es gegen Korea, Brasilien, Russland, Serbien und Topfavorit Frankreich. Wie schätzen Sie die Gruppe ein?

PROKOP Es wartet eine große Bandbreite an unterschiedlichen Aufgaben und Herausforderungen auf uns. Angefangen mit Korea, einer ganz disziplinierten Mannschaft, die mit hohem Tempo und viel Spielwitz kommt. Brasilien steht für Kampfgeist und Härte. Russland hat sich nach den Misserfolgen der Vergangenheit wieder den nötigen Hunger auf Erfolg geholt. Gegen Serbien haben wir zwei Vergleiche hinter uns, aus denen wir für uns vieles rausnehmen können. Und gegen Frankreich brauchen wir in allen Bereichen eine Topleistung, um diese Mannschaft niederzuringen. Wir wollen von Anfang an aus der Vorfreude eine Euphorie machen.

Stichwort Euphorie – wie haben Sie das sporthistorische Ereignis Wintermärchen 2007 erlebt?

PROKOP Da war ich natürlich als Fan der Nationalmannschaft dabei. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern. Ich saß als Zuschauer beim Halbfinale und Finale in Köln auf der Tribüne. Es war ein riesiges Fahnenmeer, ein euphorisiertes Heimpublikum. Auf dem Feld wurde um jeden Zentimeter gekämpft. Die Erinnerungen sind auch zwölf Jahre danach noch sehr präsent.

Kann man sich da etwas abschauen? Nehmen Sie die Bilder von damals womöglich als Motivation für heute?

PROKOP Die Erinnerungen werden eine untergeordnete Rolle spielen, die Mannschaften kann man nicht miteinander vergleichen, und es liegt zu viel Zeit dazwischen. In dem ein oder anderen Motivations-Trailer wird es sicherlich das ein oder andere Bild geben, ansonsten wollen wir aber unsere eigene Geschichte schreiben.

Damals gab es Typen wie Christian Schwarzer, Henning Fritz oder auch Michael Kraus im Team – wer sind die prägenden Figuren in der aktuellen Mannschaft, die ähnliche Rollen einnehmen könnten?

PROKOP Unsere tragenden Säulen sind Spieler, die auf zentralen Positionen spielen wie Patrick Wiencek und Hendrik Pekeler, wie Andreas Wolff und Silvio Heinevetter. Das sind Spieler, die ganz unterschiedlich nach außen wirken. Der eine klarer und forscher in der Zielformulierung, der andere introvertierter, aber im Mannschaftskreis sehr anerkannt. Insgesamt haben wir einen guten Mix.

Welche Rolle spielt Kapitän Uwe Gensheimer, der in der Nationalmannschaft bislang noch auf den ganz großen Erfolg wartet?

PROKOP Uwe hat speziell nach dem letzten Turnier sehr viel reflektiert und vieles zum Positiven verändert. Er ist ein offener Kapitän, der für jeden Spaß zu haben ist, aber auch immer ein offenes Ohr für Sorgen hat. Gleichzeitig strebt er auf dem Parkett immer nach der optimalen Chancenverwertung und einer verbesserten Verteidigung. Ich möchte aber auch betonen, dass Uwe es allein schwer haben wird, die Mannschaft erfolgreich durch das Turnier zu bringen. Da sind wir als Team gefragt, uns gegenseitig zu unterstützen. Vor allem auch der gesamte Mannschaftsrat mit Steffen Weinhold, Silvio Heinevetter und Patrick Wiencek wird hier eine wichtige Rolle spielen.

Wie beurteilen Sie Ihr Torwartteam Wolff und Heinevetter? Wo sehen Sie die Stärken des Gespanns, wo ist noch Luft nach oben?

PROKOP Beide genießen einen riesigen Respekt bei ihren Mitspielern, aber auch beim Gegner. Darauf setzen wir bei der WM. Sie sind sehr unterschiedlich. Andreas hat seine Stärken in der körperlichen und mentalen Präsenz. Er verfügt über sehr viel Ruhe im Tor, aber dann kommt er mit blitzschnellen Bewegungen auch in die kleinsten Winkel des Kastens. Er lebt zudem von seinen Emotionen. Silvio ist ein Torhüter, der durch ein unorthodoxeres Torhüterspiel besticht. Mal liegt er quer in der Luft, mal macht er gar keine Bewegung. Der Gegner kann das schwer analysieren. Zudem ist Silvio imstande, eine Halle so richtig mitzunehmen, denn auch er ist ein sehr emotionaler Torhüter. In beide setze ich sehr große Hoffnungen.

Das deutsche Eishockey-Team ist nach der olympischen Silbermedaille zu Deutschlands Mannschaft des Jahres gewählt worden. Ist das ein zusätzlicher Anreiz für Sie und Ihre Spieler?

PROKOP Die Eishockey-Nationalmannschaft hat es geschafft, dass sich Deutschland mit ihr identifiziert hat. Es war ein eingeschworener Haufen, kein Star wurde herausgehoben. Das sind immer wieder die Faktoren für Erfolgsgeschichten. Das war auch 2016 so, als Deutschland überraschend Handball-Europameister in Polen wurde. Jetzt ist die Erwartungshaltung eine andere, trotzdem können wir euphorisieren und emotionalisieren, weil wir gute Typen in der Mannschaft haben.

Das Image der Bad Boys wird bei der WM nicht neu aufgelegt. Warum?

PROKOP Diese Idee kam damals von Dagur Sigurdsson zu einem perfekten Zeitpunkt. Die Werte, die die Bad Boys ausgezeichnet haben, erkennen wir nach wie vor als unsere an. Danach richten wir auch unser Handballspiel aus: Wir sind bereit, uns und dem Gegner wehzutun, füreinander zu kämpfen. Trotzdem ist es ein neues Zeitalter. Der Name Bad Boys wird von unserer Seite nicht mehr aktiv befeuert. Wir wollen als Handball-Nationalmannschaft wahrgenommen werden.

Was tun Sie, um dem WM-Stress mal zu entfliehen?

PROKOP Es ist eine ganz wichtige Lehre aus der EM, dass man die sogenannten Offline-Phasen bewusster nutzt, um frischer durch das Turnier zu gehen. Wir werden verschiedene Dinge im Mannschaftskreis machen, vielleicht auch mal einen Kinoabend. Aber bei der WM geht es Schlag auf Schlag, da werden sich solche Aktivitäten in Grenzen halten. Ich selber versuche, mit Fitnesstraining und einem Saunagang kleine Pausen einzulegen.

Wie sieht der Kontakt zu Ihrer Familie während des Turniers aus?

PROKOP Aus der Familiengruppe in WhatsApp melde ich mich wegen der WM nicht ab. Wir werden sicher kurz telefonieren, manchmal muss aber auch eine Nachricht am Tag reichen. Da habe ich aber sehr viel Verständnis von meiner Frau, bei meinen Kindern ist das schon schwieriger.

Gibt es für Ihre Spieler ein Handy- oder Social-Media-Verbot während der WM?

PROKOP Nein, da vertraue ich meinen Spielern. Wir haben Bereiche wie beim Essen oder in Teamsitzungen, in denen unsere Handys tabu sind. Es wird zwar kein Verbot geben, aber allen muss bewusst sein, dass wir den medialen Konsum dosieren müssen.

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