Glaubwürdig oder verseucht?

Moskau · Die Leichtathletik-WM in Moskau wird von zahlreichen Absagen verletzter und gesperrter Asse begleitet. David Rudisha, Yohan Blake, Blanka Vlasic oder Matthias de Zordo: Die Liste ist lang und prominent.

Die Doping-Hiobsbotschaften nahmen vor den Weltmeisterschaften in Moskau (10. bis 18. August) kein Ende. Neben dem Schock um die positiv getesteten Sprinter Tyson Gay (USA) und Asafa Powell (Jamaika) wurden reihenweise russische Leichtathleten aus dem Verkehr gezogen, zuletzt auf einen Schlag 31 Akteure aus der Türkei. Die offizielle Liste der vom Weltverband IAAF vom 30. Juli ist damit auf rund 290 suspendierte und gesperrte Läufer, Springer und Werfer angewachsen. Sodom und Gomorrah?

"Die überwältigende Mehrheit der Athleten und Funktionäre der IAAF glaubt an einen sauberen Sport", hieß es in einer gestern vom IAAF-Kongress verabschiedeten Anti-Doping-Erklärung. Darin stellt sich der Weltverband mit Zahlen und Fakten als Pionier des Kampfes gegen Leistungsmanipulation dar. 1989 wurden Trainingstests eingeführt, 2001 Blutkontrollen, seit zwei Jahren werden Proben von 2000 Athleten für den biologischen Blutpass gesammelt. Pro Jahr lässt sich die IAAF sein Anti-Doping-Programm drei Millionen Dollar kosten.

"Wir sind glaubwürdig im Kampf gegen Doping. Die Schwimmer haben noch nicht einmal den Blutpass eingeführt", sagte IAAF-Mitglied Helmut Digel vor dem WM-Start am Samstag. "Welcher andere Verband zieht denn seine Top-Asse aus dem Verkehr?" Dass die Leichtathletik dafür nicht gelobt wird, sondern meistens in Misskredit gerät, findet Digel deshalb "lächerlich, jede Innovation kommt von der IAAF."

Vor und bei der WM in Moskau hat die IAAF ein umfangreiches Testprogramm initiiert. In den vergangenen zwei Monaten wurden zwischen 150 und 250 Trainingstests bei den Topathleten veranlasst. Während der Titelkämpfe werden 500 Kontrollen auf das Blutdopingmittel Epo durchgeführt sowie allen rund 2500 Athleten Blut für den Blutpass abgenommen.

Ist das alles genug, um die sauberen Leichtathleten zu schützen? Ex-Europameister Christian Reif bleibt misstrauisch. "Wenn ich davon ausgehe, dass alle Menschen sauber sind, dann würde ich vergessen, was in den vergangenen Wochen passiert ist", sagte Athlet des LC Rehlingen in der "Süddeutschen Zeitung".

Verständnis hat Reif dafür, dass nach den Sprint-Fällen Zweifel an den Weltrekorden und Erfolgen von Usain Bolt gehegt werden. "Das ist die schnellste und einfachste Herleitung der jüngsten Fälle, die man den Menschen auch zugestehen muss", meinte er. "Das ist einfach jenseits der Vorstellungskraft vieler Leute und - wenn ich ganz ehrlich sein soll - auch für mich." Dass der Jamaikaner dem Ansehen der Leichtathletik gut tut, glaubt er nicht uneingeschränkt. "Wenn man von dem ausgeht, was ich glaube, schadet er einfach zu vielen anderen Sportlern", sagte Reif, "ich kann nicht sagen, dass er gedopt ist. Ich kann nur Vermutungen anstellen."

Wenn am Samstag um 18.15 Uhr im Luschniki-Stadion die schnellen Jungs um Bolt in die Startblöcke steigen, wird der Doping-Verdacht mitlaufen. Schließlich sind seit 1999 sieben der zehn schnellsten Sprinter der Geschichte der Einnahme verbotener Substanzen überführt worden. David Rudisha hat bei der Leichtathletik-WM ein straffes Programm vor sich. Der Weltmeister und Olympiasieger will in Moskau mehrere Interviews geben, mit kleinen Kindern trainieren und einen Fan-Nachmittag besuchen. Das einzige, was der in Tübingen trainierende Kenianer nicht tun kann, ist beim 800-Meter-Rennen zu laufen. Denn der am Knie verletzte Rudisha gehört wie 100-Meter-Weltmeister Yohan Blake (Jamaika), Hochspringerin Blanka Vlasic (Kroatien) oder der deutsche Speerwurf-Titelverteidiger Matthias de Zordo zu den Assen, die die WM aus unterschiedlichen Gründen verpassen.

Für die spektakulärsten Absagen haben die Dopingfahnder gesorgt. Ex-Weltmeister Tyson Gay (USA), der Ex-Weltrekordler Asafa Powell (Jamaika), 1500-Meter-Olympiasiegerin Asli Cakir Alptekin (Türkei) oder Sprinterin Veronica Campbell-Brown (Jamaika) wurden im Vorfeld der WM positiv getestet.

Die meisten in Moskau fehlenden Asse sind ohnehin verletzt - wobei es den ehemaligen Saarbrücker de Zordo mit seinem Achillessehnenriss am schwersten erwischt hat. Beim Siebenkampf sagten binnen zwei Tagen die amtierende Weltmeisterin (Tatjana Tschernowa) und die aktuelle Olympiasiegerin (Jessica Ennis-Hill) ab. Bei der zweifachen Weltmeisterin Vlasic wurden nur zwei Monate nach ihrer umjubelten Rückkehr die Schmerzen im lädierten Fuß wieder zu stark.

Die Inflation an großen Meisterschaften macht es einigen Athleten leichter, mal eine WM auszulassen. Mittlerweile finden Welt- und Europameisterschaften im Zwei-Jahres-Rhythmus statt. Selbst wer diesmal in Moskau nicht dabei ist, kann noch einmal Welt- (2015) und zweimal Europameister (2014, 2016) werden, bevor 2016 in Rio de Janeiro die nächsten Olympischen Spiele beginnen.

Folglich sind auch immer weniger angeschlagene Athleten bereit, für einen WM-Start ihre Gesundheit zu riskieren. Hürdensprinterin Carolin Nytra und Hochspringerin Ariane Friedrich entschlossen sich ihre Saison vorzeitig abzubrechen, um erst einmal wieder vollständig gesund zu werden.

Ein ganz besonderer Grund, nicht nach Moskau zu fliegen heißt Janek und ist erst zwei Monate alt. Er ist der Sohn der tschechischen Speerwurf-Olympiasiegerin Barbora Spotakova, die eine Babypause einlegt. Janeks Geburt könnte den Weg für die Olympia-Zweite Christina Obergföll freimachen, die endlich den ersten großen Titel holen will.

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HintergrundEs ist das größte Sportereignis des Jahres: Bei der 14. Leichtathletik-WM in Moskau kämpfen insgesamt 1974 Athleten aus 206 Nationen um Gold, Silber und Bronze. Die Fans kommen auch vor den TV-Geräten auf ihre Kosten. Insgesamt werden rund 100 Stunden live von den Titelkämpfen aus dem Luschniki-Stadion übertragen. ARD und ZDF planen mehr als 40 Live-Stunden aus Russland, hinzu kommen Berichte in den Nachrichten und Magazinsendungen. Außerdem bieten beide Sender im Internet unter www.sportschau.de und www.zdfsport.de Video-Livestreams an. Eurosport will während der neun WM-Tage 60 Stunden live übertragen. sid

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