Fokus soll auf Charakter und Herzblut liegen

Rio de Janeiro · Rio de Janeiro. Angesichts einer der größten olympischen Krisen sollten nach Ansicht von Alfons Hörmann, dem Präsidenten des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), andere Werte für das deutsche Team wichtiger sein als nur die absolute Zahl von Medaillen. Vor dem Start der Spiele hat sich dpa-Mitarbeiter Andreas Schirmer mit dem 55-Jährigen, seit Dezember 2013 im Amt, unterhalten.

 DOSB-Chef Alfons Hörmann strahlt mit den Marathon-Zwillingen Anna und Lisa Hahner (von links) um die Wette.

DOSB-Chef Alfons Hörmann strahlt mit den Marathon-Zwillingen Anna und Lisa Hahner (von links) um die Wette.

Foto: stratenschulte/dpa

Herr Hörmann, die Sommerspiele finden unter schwierigen Bedingungen statt: Das Land erlebt eine Staatskrise, hat finanzielle und ökologische Probleme. Was erwarten Sie von den Spielen?

Alfons Hörmann: Die Rahmenbedingungen sind erkennbar schwieriger, als sie es bei anderen Spielen bisher waren. Die Vorfreude lassen sich Athleten und auch wir in der Führung der Mannschaft jedoch trotzdem nicht nehmen. Aber wir gehen doch mit einer nochmals erhöhten Sensibilität nach Rio . Wir dürfen diese Spiele und auch andere weltweiten Wettbewerbe jedoch auch nicht immer nur durch die Brille deutscher Perfektion anschauen. Ich will aber nichts schönreden oder glorifizieren. Brasilien muss nach seinen Zusagen vor der Vergabe dem Weltsport nun beweisen, dass es trotz der Krise schöne und Mut machende Spiele ausrichten kann.

Der deutsche Fahnenträger wird in diesem Jahr in neuer Form gewählt. Nach der Vorauswahl von fünf Kandidaten - Timo Boll , Moritz Fürste , Ingrid Klimke, Lena Schöneborn und Kristina Vogel - wählen die Bürger und das Olympia-Team den deutschen Fahnenträger. Warum dieses neue Verfahren?

Hörmann: Das Ziel war, noch mehr Identifikation mit der deutschen Olympiamannschaft herzustellen sowie vorbildlich transparent und offen zu agieren. In der Vergangenheit ist ja vielleicht nicht zu Unrecht kritisiert worden, dass nur ein relativ kleiner Kreis von Personen diese wichtige Entscheidung getroffen hat. Wir mussten nun in einem kleinen Kreis die fünf Kandidaten auswählen. Das war schon schwer genug, sich aus einer tollen Mannschaft auf fünf Top-Kandidaten zu einigen.

Und sind die fünf Kandidaten alle erste Wahl?

Hörmann: Jeder der fünf Athleten, die nominiert sind, bringt in jeder Hinsicht - olympische Erfolge, Persönlichkeit, Bekanntheit, Ausstrahlung - die Voraussetzungen mit, ein würdiger Fahnenträger zu sein.

44 Medaillen möchte der DOSB aus Rio mitnehmen. Wären weniger als 40 Medaillen eine Enttäuschung und vier oder fünf Medaillen mehr als kalkuliert ein Grund zum Jubeln?

Hörmann: Erst einmal: Wir werden über jede Medaille jubeln. Nach dem, was vor den Spielen in Sachen Doping aber nun alles diskutiert wurde, sollten wohl andere Werte für das Olympia-Team im Vordergrund stehen als nur die absolute Zahl von Medaillen . Für mich haben damit die Verletzungs- und vor allem die Skandalfreiheit oberste Priorität. Denn was wir einmal mehr schmerzvoll im Weltsport erkennen müssen: Erfolg um jeden Preis kann und darf nicht das Maß aller Dinge sein.

Was dann?

Hörmann: Gerade in solchen Zeiten, in denen wir über Manipulation, unfaire Wettbewerbe und weitere kritikwürdige Dinge zu diskutieren haben, sollte der Fokus weniger auf Metall, sondern mehr auf Charakter, Herzblut und Leidenschaft liegen. Wir wollen vorbildliche Botschafter für unser Land sein. Ob es dann einige Medaillen mehr oder weniger werden, ist in diesem Zusammenhang als nachrangig zu sehen.

Wird es diese Zielvorgaben auch nach der geplanten Leistungssportreform noch geben?

Hörmann: In irgendeiner Form wird man natürlich auch künftig Potenziale ermitteln und messbar definieren müssen - das ist ein wichtiger Bestandteil des Hochleistungssports. Daran wird auch das zukünftige Leistungssportkonzept nichts ändern.

Russland hat 2012 in London 82 Medaillen gewonnen. Wird es einfacher ohne gedopte russische Athleten, Medaillen zu holen?

Hörmann: Die Frage kann man wohl erst beantworten, wenn man weiß, wie das russische Team nun konkret aussehen wird und in welchen Sportarten mit wem die Russen vertreten sind. Erst dann kann man sachgerecht einschätzen, was das für unser Team bedeutet. Ich will nicht ausschließen, dass sich in einigen Sportarten die Chancen damit erhöhen.

Die deutschen Athleten gehen dopingfrei an den Start?

Hörmann: Davon gehe ich, wie in der Vergangenheit, aus. Bei uns wird durch die Nationale Anti-Doping-Agentur und mit großem Engagement unserer Fachverbände sowie strengen Kontrollen 365 Tage und Nächte daran gearbeitet. Und ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass es erfolgreich umgesetzt wird. "Alles geben - nichts nehmen": Das Nada-Motto werden wir weiterhin aktiv umsetzen, wo immer wir Einfluss haben. Gerade deshalb erwarten wir von der Welt-Anti-Doping-Agentur, dass dieser Standard nun auch endlich weltweit in der Praxis umgesetzt wird.

Kann das Abschneiden des deutschen Teams in Rio noch Einfluss auf die Leistungssportreform haben, die nach Olympia verabschiedet wird?

Hörmann: Aus meiner Sicht so gut wie nicht. Was man für die kommenden Spiele in vier und acht Jahren auf die Beine stellen will, muss man von Rio doch weitgehend trennen. Fünf oder zehn Medaillen mehr oder weniger bei den Spielen in Brasilien werden also sicher nicht dazu führen, dass wir die Reform nennenswert verändern. Ein Quintett hofft auf die höchste Ehre, doch es kann nur einen geben: Der deutsche Sport blickt heute gespannt nach Rio . Einen Tag vor der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele wird im Deutschen Haus bekannt gegeben, wer die deutsche Fahne vor einem Milliardenpublikum ins legendäre Maracanã tragen darf.

"Da vorneweg zu marschieren, ist der Traum eines jeden Sportlers", sagt Timo Boll . Das Tischtennis-Ass (Silber 2008, Bronze 2012) ist der Einzige in der Vorauswahl, der sich (noch) nicht Olympiasieger nennen darf. Vielseitigkeitsreiterin Ingrid Klimke (Team-Gold 2008/2012), Hockey-Kapitän Moritz Fürste (2008/2012), Lena Schöneborn (Moderner Fünfkampf/2008) und Kristina Vogel (Bahnrad/2012) sind alle mit Gold dekoriert.

Einen Favoriten für die Nachfolge von Hockeyspielerin Natascha Keller gibt es nicht - zumal der Fahnenträger in diesem Jahr durch eine Wahl ermittelt wurde, nicht wie gewohnt vom Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) bestimmt. Und so sprach Fürste von einer "20-prozentigen Chance". Stimmrecht hatten in den vergangenen Wochen je zur Hälfte die Olympia-Mannschaft und die deutsche Bevölkerung.

Klimke empfand schon die Nominierung "als ganz große Ehre". Sie sei "tief gerührt" gewesen von der Berufung ins Kandidaten-Quintett. Eine Entscheidung für sie wäre die Fortführung einer guten, alten Tradition: Fünf Mal kam der Fahnenträger bereits aus den Reihen der Reiter, 1988 in Seoul führte Ingrids Vater Reiner die Delegation an - und gewann später Mannschafts-Gold in der Dressur. "Mein Vater hat mir immer vermittelt: Bei den Olympischen Spielen dabei zu sein ,ist unvergleichlich", sagte Klimke. Die 48-Jährige fiebert ihren fünften Sommerspielen entgegen als wären es die ersten.

Valentin Altenburg aber favorisiert naturgemäß einen anderen Sportler . "Moritz Fürste ist vielmehr als unser Kapitän und das Gesicht unserer Sportart", sagt der Hockey-Bundestrainer: "Man muss sagen, dass er inzwischen fast schon das Gesicht des deutschen Sports geworden ist." Nach Keller wäre Fürste der zweite Fahnenträger aus dem Hockey-Lager in Serie.

Ein Novum wäre die Wahl Schöneborns, Vogels oder Bolls. Noch nie in der 108-jährigen Geschichte deutscher Fahnenträger kam der Auserwählte aus den Sportarten Moderner Fünfkampf, Rad oder Tischtennis. "Timo ist ein herausragender Sportler , er hätte es auf jeden Fall verdient", sagt Bundestrainer Jörg Rosskopf: "Ich merke, wenn er sich im Olympischen Dorf bewegt, dass er noch immer fast der bekannteste deutsche Sportler überhaupt ist."

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