Ernüchterung beim Weltmeister

Warschau · Die erste Niederlage gegen Polen, die höchste Auswärtspleite in einer Qualifikation überhaupt: Der Weltmeister ist insbesondere dank seiner Abschlussschwäche ins Straucheln geraten.

Joachim Löw tapste nach der historischen Pleite von Warschau entgeistert über den Rasen, seine WM-Helden schlichen nur 90 Tage nach dem Triumph von Rio wie geprügelte Hunde an ihm vorbei in die Kabine. Dort quälten sich die fassungslosen Stars noch einmal mit Bildern von diesem geschichtsträchtigen 0:2 (0:0) gegen Polen. "Da kamen 20 Szenen im polnischen Strafraum - und zwei bei uns", sagte Thomas Müller kopfschüttelnd und fasste damit das ganze Elend zusammen. Vor dem Spiel morgen (20.45 Uhr/RTL) in Gelsenkirchen gegen Irland werde die gravierende Abschlussschwäche "das Hauptthema bei uns" sein, kündigte Löw zerknirscht an.

Der Bundestrainer bezeichnete die Lage dennoch mit gespielter Gelassenheit als "nicht allzu dramatisch". Er sieht trotz der ersten Niederlage gegen Polen im 19. Duell und der höchsten Auswärtspleite in einer Ausscheidungsrunde (EM und WM) überhaupt "keine großen Probleme in der Qualifikation". Das dürfte angesichts der kommenden Gegner wie Irland, Gibraltar oder Georgien stimmen. Doch seine noch immer zahlreichen Baustellen sind Löw abermals schmerzhaft vor Augen geführt worden. Der Bundestrainer wollte seiner Elf zwar "nur einen Vorwurf machen" - dass sie keinen ihrer 28 Torschüsse nutzte.

Doch die Probleme zogen sich durch alle Mannschaftsteile. Vorne wird in der Ära nach Miroslav Klose und angesichts der Verletzung von Mario Gomez ein Stoßstürmer zumindest als Alternative vermisst. Beim 2:1 gegen Schottland war Müller mit zwei Treffern eingesprungen. Doch der Bayer spielte diesmal wie seine Nebenleute, darunter Neuling Karim Bellarabi, glücklos. Bellarabi konnte sich daher über seinen ansonsten äußerst gelungenen Einstand "gar nicht freuen", wie er eingestand.

Nur: Wer oder was soll Abhilfe schaffen? Zumal auch die Abwehr patzte. Ersatzkapitän Manuel Neuer verschuldete das 0:1 durch den Ex-Leverkusener Arkadiusz Milik (Ajax Amsterdam /51.), als er zu zögerlich aus seinem Tor kam. Beim 0:2 von Sebastian Mila (88.) stellte sich Linksverteidiger Erik Durm gegen den ansonsten abgemeldeten Vorlagengeber Robert Lewandowski allzu naiv an. Dass der von Löw zum Chef ernannte Toni Kroos seine Führungsrolle vor der Abwehr nur bedingt ausfüllte, musste ihn zusätzlich beunruhigen.

Löw schwant außerdem immer mehr, dass ihn die Nachwehen der WM noch lange beschäftigen werden. "Es gab mehr einschneidende Veränderungen, als ich erhofft hatte", sagte er. Klose, WM-Kapitän Philipp Lahm und Per Mertesacker fehlen als Anführer. Überdies vermisst Löw "vier, fünf Spieler, die bei uns immer gespielt und die Mannschaft geprägt haben". Neben Mesut Özil nannte er Sami Khedira "und natürlich Bastian Schweinsteiger ". Wegen deren Absenz hätten die ganze Woche über "die Automatismen gefehlt". Gegen die Iren dürfte das kaum anders werden. Löw ahnt das. "Das ist eine Mannschaft, die vorwiegend verteidigt und auf Konter spielt", sagte er und unterstrich: "Wir werden darüber sprechen, wie unser Torabschluss sein muss."

Meinung:

Kein Grund zur Sorge

Von SZ-RedakteurMichael Kipp

Die Niederlage gegen Polen war unnötig, keine Frage. Doch jeder, der Fußball spielt, kennt solche Spiele, in denen seine Mannschaft haushoch überlegen ist, unzählige Chancen hat, aber die Kiste nicht trifft. Und zu allem Überfluss noch verliert, weil der Gegner aus seinen Chancen Tore macht.

Genau so ein Spiel war das am Samstag. 62 Prozent Ballbesitz hatten die Deutschen, 6:0 Ecken, 28 Torschüsse gegen ganze fünf der Polen. Die Deutschen hätten noch 90 Minuten spielen können, sie hätten nicht getroffen. So unehrlich ist ab und an ein Ergebnis.

Dennoch hat das Spiel auch deutsche Schwächen gezeigt. Altbekannte: Wir haben keinen eiskalten Mittelstürmer, und wir haben keine gute linke Defensivseite. Dennoch sind wir Weltmeister geworden: Also kein Grund zur überbordenden Sorge.

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