Ende einer langen Leidenszeit

Peking · Die Niederländerin Dafne Schippers ist in Peking sensationell zu Silber über 100 Meter gesprintet. Ihr Leistungssprung sorgt für Zweifel, aber die 23-Jährige beteuert, dass bei ihr alles mit rechten Dingen zugeht.

Nadine Müller zeigte ihre starken Arme und küsste ihren Bizeps. Vier Jahre nach Silber in Daegu hat die Diskuswerferin aus Leipzig bei der Leichtathletik-WM in Peking Bronze gewonnen. Die 29-Jährige musste sich nach einem Wurf auf 65,53 Meter nur Weltmeisterin Denia Caballero aus Kuba (69,28) und Olympiasiegerin Sandra Perkovic aus Kroatien (67,39) geschlagen geben.

"Der ganze Schweiß, die ganzen Tränen haben sich gelohnt. Das gibt Aufschwung für Olympia in Rio", sagte Müller: "Ich habe mit einer Medaille geliebäugelt, aber nicht gerechnet. In Rio will ich noch einen draufpacken." Bis zum letzten Versuch hatte sie sogar auf Silber-Kurs gelegen, doch dann fing Perkovic sie doch noch ab. "Scheiße", entfuhr es ihr nach dem Wurf der Kroatin neben dem Ring, war dann aber trotzdem mehr als zufrieden: "Ich bin super happy." Nach einem verlorenen Jahr mit starken Verletzungsproblemen meldete sich die 29-Jährige in der Weltspitze eindrucksvoll zurück und holte die vierte Medaille für das deutsche Team in Peking . Die deutsche Meisterin Julia Fischer (Berlin) kam nicht über 63,88 Meter und Platz fünf hinaus. Rückenprobleme machten der Freundin von Robert Harting Probleme. Shanice Craft (63,10/Mannheim) wurde Siebte.

Olympiasieger Robert Harting twitterte: "Super Ergebnis! Harte Arbeit und ein toller Wettkampf liegt hinter euch! Genießt den Abend!" Die Enttäuschung seiner Freundin Julia hielt sich in Grenzen: "Die ersten beiden Würfe waren super", sagte sie, doch danach bekam sie wieder Rückenprobleme . "Wenn das nicht passiert wäre, hätte ich noch weiter werfen können."

Nachdem Müller schon länger ihr privates Glück gefunden hat, läuft es nach einer Leidenszeit jetzt auch wieder im Diskusring für die Polizistin. Silvester 2013 hatte die Vize-Europameisterin von 2012 ihre Freundin Sabine, die nun zu Hause vor dem Fernseher die Daumen drückte, geheiratet. "Wir wollen uns nicht weiter verstecken oder ständig irgendwelchen Beziehungsfragen aus dem Weg gehen. Wir wollten keine Scheinehe mehr führen", hatte Müller damals gesagt: "Ich fühle mich so befreit, es ist unglaublich. Das Leben kann jetzt nur noch schöner werden."

Doch 2014 verlief für Müller zunächst gar nicht schön - die Vorsaison musste sie wegen Knieschmerzen abbrechen und verpasste so die EM in Zürich. Erst mit einer speziellen Therapie für die Wirbelsäule bekam sie die Beschwerden in den Griff. Jetzt ist die 1,93 Meter lange Blondine endgültig zurück auf der großen Bühne. "Ich habe Bronze gewonnen, nicht Silber verloren", sagte Müller. Mitten im Freudentaumel wurde Dafne Schippers plötzlich ernst, ihre Augen blitzten böse. "Kommt, fragt mich doch endlich danach", sagte die schnellste Frau Europas in Richtung der Reporter: "Ich werde euch sagen, dass ich zu 100 Prozent sauber bin. Man kann doch einfach nur Talent haben. Mich macht so etwas wirklich wütend."

Mit ihrem sensationellen Silber-Coup im 100-Meter-Finale der WM in Peking stellte die Niederländerin fast Weltmeisterin Shelly-Ann Fraser-Pryce in den Schatten. Die 23-jährige Schippers, bis 2013 reine Siebenkämpferin, sprintete im Vogelnest 10,81 Sekunden - so schnell lief seit zehn Jahren keine weiße Frau, seit 17 Jahren keine Westeuropäerin.

Die Entwicklung der Blondine aus Utrecht ist außergewöhnlich. Als Siebenkämpferin holte Schippers bei der WM 2013 mit 21 Jahren Bronze. 2014 wagte sie sich an den Spezialsprint und wurde über 100 und 200 Meter in Zürich Europameisterin. Das Ganze lief als trainingsmethodisches Experiment, freilich aber mit Hintergedanken: Für eine europäische Weltklasseprinterin liegen Ruhm und Geld näher als für eine Mehrkämpferin.

"Es ist toll, als einzige weiße Sprinterin mit den dunkelhäutigen mitzuhalten", sagte Schippers: "Mein Beispiel zeigt, dass eine Weiße schnell laufen kann. Ich weiß aber auch, dass ich nicht die besten Vorgängerinnen habe." Nahezu jede hellhäutige 100-Meter-Läuferin, die bei einer WM auf dem Podium gelandet ist, gilt als belastet: Die DDR-Weltmeisterinnen Marlies Göhr (1983) und Silke Gladisch (1987), Nachfolgerin Katrin Krabbe (1991), die Griechin Ekaterini Thanou (Silber 2001). Eine wahrlich schauerliche Ahnengalerie. Bei Schippers wollten Beobachter prompt eindeutig zweideutige Hinweise entdeckt haben: Die Niederländerin habe mächtig an Muskeln zugelegt, ihre Haut sei weit unreiner als im Jahr zuvor - es wurde wild spekuliert. Und so hat Schippers ein Problem. Je schneller sie läuft, desto verdächtiger wird sie. Was sich in 9,79 Sekunden alles verändern kann. Bis zu seinem knappen Sieg über 100 Meter fiel Usain Bolt bei dieser WM durch eine ungewohnte Anspannung auf. Spätestens gestern aber, vor seinem lockeren Spaziergang durch den 200-Meter-Vorlauf, war die alte Bolt-Show im Olympiastadion zurück. Der Superstar aus Jamaika winkte ins Publikum und lachte in die Kameras. Der Erfolg über Justin Gatlin hatte offenbar befreiende Wirkung.

Morgen soll es im Finale über 200 Meter zur Revanche kommen. Ihre Vorläufe gewannen beide schon einmal locker: Bolt in 20,28, Gatlin in 20,19 Sekunden. Heute folgt das Halbfinale. "Die 200 Meter bedeuten mir noch mehr als die 100", sagte Bolt, "die Saison war nicht einfach für mich, mir fehlen einige Rennen. Ich mache mir ein wenig Sorgen um meine Fitness."

Direkt neben Bolt wurde der deutsche Meister Julian Reus in 20,51 Sekunden Vierter seines Rennens. Er verpasste das Halbfinale damit genauso wie der zweite Deutsche Robin Erewa (20,67). "Man muss ehrlich zu sich selbst sein und sich eingestehen: Mehr war nicht drin. Ich habe alles gegeben", sagte Reus. Und wie fühlte es sich an, direkt hinter dem großen Bolt herzulaufen? "Wie bei den Landesmeisterschaften, wenn mein Trainingspartner neben mir läuft", meinte er. "Man muss so etwas ausblenden." Nicholas Bett sank nach seinem sensationellen Hürdensieg auf die Knie und dankte Gott, Weltrekordler David Rudisha tanzte nach seinem 800-Meter-Triumph ausgelassen über die Tartanbahn: Kenia feiert bei der WM in Peking eine große Leichtathletik-Party - allen Doping-Anschuldigungen zum Trotz. Nach vier Tagen führt Kenia mit vier Gold, drei Silber und zwei Bronze den Medaillenspiegel an.

Nie zuvor war ein Kenianer über die Hürdenrunde aufs Podium gelaufen, Bett schraubte seine Bestzeit um eine halbe Sekunde auf 47,79. 800-Meter-Olympiasieger Rudisha dominierte die kurze Mittelstrecke nach Belieben in 1:45,84 Minuten. Am Montag hatten die Kenianer über 3000 Meter Hindernis einen Vierfachsieg gefeiert. Die 10 000 Meter der Frauen gewann Vivian Cheruiyot - zwei Jahre nach der Geburt ihres Sohnes. Der Verband Kenias steht aber massiv unter Druck. Seit 2012 wurden 30 Athleten wegen Dopings gesperrt, die Dunkelziffer dürfte noch höher sein. Denn nur die Besten dürfen ins Ausland reisen und dort Kasse machen. "Deshalb sind sie bereit, alles zu tun - auch zu dopen", sagt Hindernis-Legende Moses Kiptanui. Der Verband soll laut ARD seine Finger im Spiel haben - unterstützend und vertuschend.

Zum Thema:

Auf Einen BlickMit Johannes Vetter (Bestleistung 85,40 Meter) geht heute der einzige Vertreter eines saarländischen Clubs bei der WM an den Start. Für den Speerwerfer des SV schlau.com Saar 05 beginnt das Finale der besten Zwölf um 13.05 Uhr deutscher Zeit. Das Feld ist ausgeglichen. Eine gute Rolle könnten auch die beiden anderen Deutschen spielen: Thomas Röhler (Jena) gelang mit 89,27 Metern der drittweiteste Wurf 2015, Andreas Hofmann (Mannheim) stellte in der Qualifikation mit 86,14 Metern eine neue persönliche Bestleistung auf. red

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort