Eine Umschulung nur für LondonEine Trainingsgruppe mit paralympischen Träumen

Saarbrücken. Aus einem Langstreckenspezialist kann kein Sprinter werden und aus einem Sprinter kein Langstreckenspezialist - diese Annahme gilt in der Sportwissenschaft als gesichert. Stefan Strobel ist gerade dabei, diese These zu widerlegen. Er kommt aus dem Marathon und schult zurzeit auf die 100 Meter um. Okay, Strobel ist auch kein Läufer - der 35-Jährige ist Rennrollstuhlfahrer

Saarbrücken. Aus einem Langstreckenspezialist kann kein Sprinter werden und aus einem Sprinter kein Langstreckenspezialist - diese Annahme gilt in der Sportwissenschaft als gesichert. Stefan Strobel ist gerade dabei, diese These zu widerlegen. Er kommt aus dem Marathon und schult zurzeit auf die 100 Meter um. Okay, Strobel ist auch kein Läufer - der 35-Jährige ist Rennrollstuhlfahrer. "Bei den Rollis ist das nicht so ungewöhnlich. Es gibt zwar auch Spezialisten, aber viele fahren sowohl die kurze wie auch die lange Distanz", erläutert sein Trainer Wolfgang Blöchle die Allroundfähigkeiten der Behindertensportler.Ganz freiwillig fördert Strobel seine Vielseitigkeit allerdings nicht. Die Umschulung ist notwendig, denn der Weltrekordhalter über 10 000 Meter will unbedingt an den Paralympics in London teilnehmen. Die steigen dieses Jahr vom 29. August bis 9. September. Mit dem Marathon steht sein Steckenpferd allerdings nicht auf dem Wettbewerbsprogramm. "Das hat das Internationale Paralympische Komitee (IPC) beschlossen. Warum, kann ich ehrlich gesagt nicht nachvollziehen", merkt Blöchle kopfschüttelnd an. Denn mit großer Wahrscheinlichkeit wäre Strobel im Marathon ein Platz auf dem Podium sicher gewesen.

In dieser Disziplin hat er 2004 in Athen bereits die Silbermedaille geholt. "Dort habe ich drei Wochen in einem Traum gelebt. Danach hat es einige Zeit gedauert, bis ich realisiert hatte, dass es noch ein Leben nach Athen gibt", blickt Strobel immer noch schwärmend auf das Erlebnis in Griechenland zurück. Vier Jahre später in Peking bot das IPC den Marathon in seiner Startklasse T51 nicht mehr an, und als dies auch für London verkündet wurde, hakte Strobel eine weitere Teilnahme eigentlich ab. Doch sein Trainer hatte eine Idee. "Wir haben Stefan bekniet, damit er sich auf die 100 Meter einlässt. Seine Fortschritte sind wirklich enorm. Ich denke, er kann um die Bronzemedaille mitfahren", hält Blöchle große Stücke auf seinen Schützling. Auch Strobel selbst sieht dieses Ziel als realistisch an. "Mit dem dritten Platz wäre ich zufrieden", erklärt der Saarbrücker, "und ich bin eigentlich nur schwer zufrieden zu stellen, denn ich bin ein Perfektionist."

Aber noch hat der Perfektionist von der Reha-Sport-Gruppe (RSG) Saar sein Ticket für London gar nicht sicher in der Tasche. Vor der Nominierung des Kaders am 21. Juli will und sollte er seine Zeit verbessern. Sein persönlicher Rekord liegt momentan bei 24,71 Sekunden, der Weltrekord steht bei 21,67 Sekunden. "Ich denke, ich muss noch einmal nachlegen. Aber ich kenne mein Potenzial, von daher bin ich ganz optimistisch", verdeutlicht der Lehrer, der am Rotenbühl-Gymnasium Mathematik und Informatik unterrichtet.

Unterrichtet wurde Strobel in den vergangenen Monaten vor allem in den Basiselementen für die Sprint-Distanz. "Er hat 15 Jahre nicht wirklich etwas für seine Grundschnelligkeit getan und erst im November damit angefangen. Auch die Technik am Greifring ist eine andere. Es gibt viele Kleinigkeiten, die auf der kurzen Strecke zwei bis drei Sekunden kosten können", verweist Blöchle auf Probleme bei der Umstellung. Noch bleibt Strobel Zeit, um die Umstellung abzuschließen und die These zu widerlegen, dass Langstreckenspezialisten keine Sprinter werden können - zumindest im Rollstuhlsport.

Saarbrücken. Tim Jeckel und David Scherer jagen zusammen über die Tartanbahn an der Hermann-Neuberger-Sportschule. "Er hängt mich ab, oh Hilfe", ruft Scherer seinem Mitstreiter in gespielter Bestürzung zu. Dann zieht der 16-Jährige kurz an und klebt wieder am Hinterrad des drei Jahre jüngeren Jeckel. "Sie sollen sich draußen noch ein bisschen einfahren. In der Halle können sie später richtig bollern. Wobei . . . wenn die beiden hinter sich her sind . . .", lässt Wolfgang Blöchle den Satz beim Blick auf seine Zöglinge unvollendet.

Blöchle ist der Leichtathletik-Fachwart des Behinderten- und Rehabilitations-Sportverband (BRS) Saarland und für die Rennrollstuhlfahrer verantwortlich, denen es offensichtlich nicht an Motivation mangelt. "Es gibt in ganz Deutschland keine Rennrollstuhlgruppe, die von der Anzahl und dem Engagement so gut funktioniert wie unsere", sagt der Übungsleiter stolz - denn hinter Altmeister Stefan Strobel (35) tummeln sich viele Talente.

David Scherer hat wohl die größte Zukunft vor sich. Der sechsfache Juniorenweltmeister sahnte in den vergangenen Jahren so gut wie alles ab, was es auf der Kurz- und Mitteldistanz im Juniorenbereich abzusahnen gab. Der Ausnahmekönner stellt jetzt bereits viele deutlich ältere Kontrahenten in den Schatten. "2016 will ich zu den Paralympics nach Rio", sagt Scherer. Geht seine Entwicklung nur annähernd so weiter, wird er in Brasilien mit Sicherheit um Medaillen mitfahren.

Für seinen Mitfahrer an diesem sonnigen Frühlingstag kommen die Paralympics 2016 wahrscheinlich noch nicht in Frage. Tim Jeckel betreibt zwar schon seit vielen Jahren Behindertensport, steht beim Rennrollstuhlfahren allerdings noch am Anfang. "Tim hat mit Bogenschießen begonnen. Seit einem halben Jahr trainiert er aber intensiv bei uns", berichtet Blöchle vom Werdegang des 13-Jährigen. Vier Jahre älter sind Jens-Uwe Schnoor und Alexandra Strack, die auch zur Trainingsgruppe zählen. Während sich Schnoor ausschließlich dem Rennrollstuhlfahren widmet, betreibt Strack noch Rolli-Basketball und -Eishockey.

Ob Lea Thome (11) und Noah Ratering (9) später ebenfalls in verschiedenen Sportarten erfolgreich sein werden, ist nicht abzusehen - schließlich stecken die beiden Küken der Gemeinschaft noch am Anfang ihrer Karrieren. Doch Blöchle ist vor allem von Thome vollends überzeugt: "Lea hat ein unglaubliches Talent. In vier Jahren ist sie reif für die Juniorenweltmeisterschaften."

Reif für die diesjährigen Paralympics in London könnte in letzter Sekunde der Älteste unter den Saarbrücker Rollstuhlfahrern werden. Olaf Schepp kommt eigentlich vom Marathon, doch mit zarten 38 Lenzen versucht er gerade, sich über den Speerwurf für London zu qualifizieren. "Wenn es funktioniert, käme das so unverhofft wie die Jungfrau zum Kind", sagt der frühere Handballer - denn das Speerwerfen war bis vor kurzem noch Neuland für ihn. Nun versucht er, die Norm von 20,60 Meter zu erfüllen.

Die Mittdreißiger Schepp und Strobel bilden aber die Ausnahme bei den saarländischen Rollis. Alle anderen sind noch minderjährig. "Ohne das große Engagement der Eltern wäre das nicht möglich. Sie fahren tausende Kilometer, damit ihre Kinder dem Sport nachgehen können", lobt Blöchle. Denn die Erziehungsberechtigten tragen einen gehörigen Teil dazu bei, dass die Trainingsgruppe am Olympiastützpunkt zu den besten in Deutschland zählt. hej

"Es hat einige Zeit gedauert, bis ich realisiert hatte, dass es noch ein Leben nach Athen gibt."

Stefan Strobel

Auf einen Blick

 Die Rennrollstuhlgruppe trifft sich zum Training in Saarbrücken: Olaf Schepp, Stefan Strobel, Tim Jeckel, David Scherer und Jens-Uwe Schnoor (von links). Foto: Rolf Ruppenthal

Die Rennrollstuhlgruppe trifft sich zum Training in Saarbrücken: Olaf Schepp, Stefan Strobel, Tim Jeckel, David Scherer und Jens-Uwe Schnoor (von links). Foto: Rolf Ruppenthal

 Die Rennrollstuhlgruppe trifft sich zum Training in Saarbrücken: Olaf Schepp, Stefan Strobel, Tim Jeckel, David Scherer und Jens-Uwe Schnoor (von links). Foto: Rolf Ruppenthal

Die Rennrollstuhlgruppe trifft sich zum Training in Saarbrücken: Olaf Schepp, Stefan Strobel, Tim Jeckel, David Scherer und Jens-Uwe Schnoor (von links). Foto: Rolf Ruppenthal

 Die Rennrollstuhlgruppe trifft sich zum Training in Saarbrücken: Olaf Schepp, Stefan Strobel, Tim Jeckel, David Scherer und Jens-Uwe Schnoor (von links). Foto: Rolf Ruppenthal

Die Rennrollstuhlgruppe trifft sich zum Training in Saarbrücken: Olaf Schepp, Stefan Strobel, Tim Jeckel, David Scherer und Jens-Uwe Schnoor (von links). Foto: Rolf Ruppenthal

Neben Stefan Strobel haben zwei weitere Behindertensportler aus dem Saarland die Teilnahme an den Paralympics im Blick. Leichtathletin Claudia Nicoleitzik vom TV Püttlingen will über 100 und 200 Meter sowie in der 4x100-Meter-Staffel starten und auch Medaillen gewinnen. Auch Bogenschützin Katharina Schett (BRS Gersweiler) hat beste Chance auf eine Nominierung für die Spiele in London. red

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort