Eine Rede zur Lage der Nation

Rio de Janeiro · Unter viel Getöse gibt Brasiliens Nationaltrainer Luiz Felipe Scolari heute seinen Kader für die Weltmeisterschaft bekannt, mit dem er zum Titelgewinn verpflichtet ist – nominieren wird er auch einige Bundesligaspieler.

Die Absolution von höchster Stelle hat Luiz Felipe Scolari schon erhalten - obwohl offen ist, ob seine Entscheidungen von Erfolg gekrönt sein werden. "Ich mag ihn, seine Würde und Aufrichtigkeit", ließ Präsidentin Dilma Rousseff wissen, er sei "großartig und gut für Brasilien". Und ach, wie gerne würde sie ins Teamquartier der Seleção nach Teresópolis nahe Rio de Janeiro reisen, nur um die Arbeitsmethoden von Felipão, dem großen Felipe, kennenzulernen und ihn dabei zu beobachten, "wie er auf dem Trainingsplatz Kommandos gibt".

Keine Überraschungen

Es ist Wahlkampf in Brasilien und Scolari ein Sympathieträger, dem viele Brasilianer vertrauen. Doch bevor die in weiten Teilen unzufriedenen Bürger am 5. Oktober entscheiden, ob sie Dilma noch eine zweite Chance als Mutter der Nation geben, steht für das WM-Gastgeberland ein mindestens ebenso wichtiges Votum bevor. Das jedenfalls suggeriert der Medienrummel, der heute in Rio auf seinen vorläufigen Höhepunkt zusteuern wird. Im großen Showpalast "Vivo Rio" wird Scolari vor hunderten Journalisten und zahlreichen Gästen jene 23 Namen bekannt geben, mit denen er bei der Heim-WM zum sechsten Titelgewinn der Seleção verpflichtet ist. 2002 gewann Brasilien die fünfte Welttrophäe, Scolari hatte es möglich gemacht.

Es trägt Züge einer Rede zur Lage der Nation, die der ehemalige Abwehrspieler nun bei seiner Kaderbekanntgabe halten wird, einen Tag vor Bundestrainer Joachim Löw. Daran ändert auch Scolaris Ankündigung wenig, auf Überraschungen zu verzichten. "Wir werden keine großen Neuigkeiten verkünden. Es ist möglich, dass ihr 22 der 23 Namen erraten werdet", hatte der 65-Jährige zuletzt bereits erklärt. Dennoch werden die 200 Millionen Brasilianer trotz oder gerade wegen allen Frusts über die sündhaft teure WM und die Versäumnisse in Sachen Infrastruktur, Gesundheits- und Bildungswesen gebannt an seinen Lippen hängen. Der Fußball lenkt in Brasilien vielleicht noch mehr als anderswo vom beschwerlichen Alltag ab.

Berufen werden, das hatte Scolari bereits verraten, die Innenverteidiger Thiago Silva und David Luiz sowie der Torwart Julio Cesar und Angreifer Fred als seine vier Kapitäne. Daneben kündigte der Trainer an, auch mit Oscar, Ramires, Willian und Paulinho zu planen. Der kickende Popstar Neymar wird natürlich ebenfalls zu den 23 Hoffnungsträgern zählen. Und als gesetzt für den Kader gelten zudem Jefferson, Daniel Alves, Marcelo, Maxwell, Hulk, Bernard, Jô sowie die beiden Bundesligaprofis Dante (FC Bayern) und Luiz Gustavo (VfL Wolfsburg).

Ebenfalls empfohlen für eine Nominierung hat sich Dantes Vereinskollege Rafinha, Anfang März im Test in Südafrika. Die Spekulationen um die verbleibenden Plätze drehen sich um den dritten Torwart, den vierten Innenverteidiger, zwei weitere Mittelfeldspieler - ums ergänzende Personal also. Von Hoffenheims torgefährlichem Mittelfeldspieler Roberto Firmino könnten die Propheten in der Heimat überrascht werden. Ehemalige Größen wie Ronaldinho oder Kaká haben sie erst recht nicht auf dem Zettel. Auf seiner Europareise vor wenigen Wochen hatte sich Scolari mit Firmino ausgetauscht, danach aber vor allem von den Trainingsbedingungen im Kraichgau geschwärmt. Ein kleines Ablenkungsmanöver?

Präsidentin bangt mit

Die Dramaturgie zu Scolaris Bekanntgabe ist jedenfalls bestens aufgebaut. Zunächst sein Auftritt in einer Fernsehsendung, in der er wie ein Staatsmann weit über den Fußball hinaus Stellung bezog zu Themen von Meinungsfreiheit über Homophobie bis hin zur Todesstrafe. Dann sein Abschied aus der Öffentlichkeit in den Kreis seiner Familie, vor der vermeintlich wichtigsten Entscheidung seines Lebens. Und nun der Auftritt im Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit, dazu in der Gastgeber-Stadt des Endspiels, wo Brasilien am 13. Juli triumphieren will.

Auch Dilma Rousseff dürfte sich für Scolaris Rede zur Lage der Nation interessieren. Die in Umfragen abgestürzte Präsidentin drückt ja alle Daumen, dass es zum erhofften Freudentaumel im Land der Unzufriedenen kommen wird. Ein Misserfolg der Seleção, zumal bei der umstrittenen WM, könnte der Kandidatin der Arbeiterpartei PT trotz schwacher Konkurrenten noch komplizierte Monate bis zur Wahl aufbürden. Scolaris Entscheidungen sollten also sitzen.

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