Fußball Eine Karriere wie ein Irrgarten
Berlin · Marcel Halstenberg ist der große Unbekannte im Kader der Fußball-Nationalmannschaft. Das könnte sich bald ändern.
(sid) Unbekannter Anrufer? Da griff Marcel Halstenberg erst einmal nicht zum Telefon. Dass später eine sonore Stimme mit starkem badischen Akzent auf seiner Mailbox zu hören war, löste auch eher Skepsis aus. „Ich dachte, es sei ein Scherz“, berichtete der Linksverteidiger von Fußball-Bundesligist RB Leipzig. „Ich hatte von Kollegen gehört, die veräppelt wurden, indem jemand mit verstellter Stimme bei ihnen anrief.“
Doch, welch Glück: „Es war wirklich der Bundestrainer.“ Und so kam es, dass Marcel Halstenberg am Dienstag als Nobody unter Topstars etwas unsicher sein Köfferchen in das Berliner Luxushotel „Das Stue“ rollte. Er war in seiner dunklen Jeansjacke aus 100 Metern Entfernung zu sehen – dennoch hielten ihn selbst die routiniertesten Autogrammjäger eher für einen Passanten. Ups, war das nicht der Halstenberg? Der Neue? Ja, das war er.
Der 26-Jährige muss sich erst noch einen Namen machen. Er hat zwar 39 Bundesliga- und 78 Zweitligaspiele absolviert, sich im engmaschigen Netz der Scouts für die U-Nationalmannschaften aber nie verfangen. „Wir sind alle Spätzünder“, sagte er der Sport Bild auf die Frage nach Gemeinsamkeiten mit Per Mertesacker oder Miroslav Klose, „das ist sicher ungewöhnlich“.
Wie auch sein Werdegang. Gelernt hat Halstenberg irgendwann einmal Stürmer. Dann spielte er lange in der Innenverteidigung, mittlerweile bewacht er die linke Abwehrseite. Der Linksfuß hat erst nach Umwegen seine Stammposition gefunden – eine Karriere wie ein Irrgarten.
Nun kommt ihm zugute, dass deutsche Linksverteidiger von gehobenem Niveau rar sind. Sie sind – ähnlich dem Stoßstürmer alter Schule – eine Spezies, die das ausgeklügelte Ausbildungssystem anscheinend nur noch selten hervorbringt. Zudem ist Jonas Hector, der Kölner Platzhirsch im Gehege, derzeit verletzt, von Confed-Cup-Sieger Marvin Plattenhardt (Hertha BSC) scheint Löw nicht vollends überzeugt. Marcel Schmelzer (Borussia Dortmund) beruft er schon lange nicht mehr.
Stattdessen Halstenberg, der seinen starken Fuß seine „linke Waffe“ nennt. Er wird sie vorerst eher selten bei Standards einsetzen – da haben andere viel ältere Rechte. Dennoch: Offensivgeist, Technik, Übersicht gehören zu seinen Stärken. Ralf Rangnick hat das vor Jahren erkannt: Während eines sechsstündigen „Überzeugungsgesprächs“ im Zug verkündete der RB-Sportdirektor, Halstenberg könne im Falle eines Wechsels vom FC St. Pauli nach Leipzig Nationalspieler werden. Halstenberg stammt aus der Nähe von Hannover, durchlief bei 96 alle Jugendmannschaften, ehe er 2011 bis 2013 bei Borussia Dortmunds zweiter Mannschaft und dann zwei Jahre bei St. Pauli in der 2. Liga spielte.
Den Schritt zum Nationalspieler kann er dank „konstant guter Leistungen“ (Löw) möglicherweise bereits morgen (21.00 Uhr/ZDF) im Wembleystadion gegen England vollziehen. Und dann? „Ich werde Vollgas geben, um vielleicht sogar eine Chance zu haben, bei der WM 2018 dabei zu sein.“ Sollte der Bundestrainer dafür durchklingeln – Halstenberg würde diesmal wohl sogar zum Telefon sprinten.