Die Zehn-Sekunden-Schallmauer

Köln · Gegenseitig treiben sie sich zu Höchstleistungen an und werden durch einen ausgeprägten Teamgeist gestärkt. Die 100-Meter-Sprinter Julian Reus und Lucas Jakubczyk sind vor der EM nahe dran an den zehn Sekunden.

Ein bisschen Eigenlob hat sich Julian Reus, der schnellste Mann Deutschlands, dann doch noch gegönnt. Am Tag nach den deutschen Leichtathletik-Meisterschaften in Ulm mit dem neuen deutschen Rekord von 10,05 Sekunden im 100-Meter-Halbfinale, postete der Wattenscheider auf seiner Facebook-Seite ein aktuelles Foto von sich und Armin Hary mit dem Satz: "Zwei Meilensteine in der deutschen Sprintgeschichte! Armin Hary und ich! - stolz."

Der Quierschieder Hary, heute 77 Jahre alt, war 1958 als erster Sprinter überhaupt die 100 Meter in 10,00 Sekunden gelaufen. Handgestoppt zwar, dafür aber auf Asche. Weltrekord. Das hat nach ihm kein anderer Deutscher mehr geschafft. Doch jetzt sind da Julian Reus und der nach Fotofinish geschlagene Berliner Lucas Jakubczyk. 10,01 Sekunden waren für beide gestoppt worden. Nicht mehr zulässiger Rückenwind von 2,2 Metern pro Sekunde vereitelte eine Aufnahme dieser Zeit in die Bestenlisten, aber fest steht: 56 Jahre nach Armin Hary machen deutsche Sprinter dort weiter, wo er aufgehört hat. Sie kratzen an der Zehn-Sekunden-Schallmauer.

Sie tun das auf bescheidene Art und verstecken sich nicht hinter der Annahme, alle anderen seien gedopt und sie daher chancenlos. Vor den am kommenden Dienstag beginnenden Leichtathletik-Europameisterschaften in Zürich stehen Reus (10,05 Sekunden) und Jakubczyk (10,07) auf den Plätzen fünf und sechs der europäischen Jahresbestenliste. Vor ihnen liegen nur der Franzose Jimmy Vicaut (9,95) und die drei Briten Chijindu Ujah (9,96), James Dasaolu (10,03) und Adam Gemili (10,04).

Eine Einzelmedaille ist dennoch nicht das oberste Ziel. Die Deutschen haben aus der Not, allein hinterher zu laufen, eine Tugend gemacht und ihre Kräfte gebündelt. Höhepunkt der Gemeinsamkeit ist seit einigen Jahren das Sprinter-Camp im Frühjahr in Florida. Diese Saison zeigt sich, dass die Konzentration auf das Team auch der individuellen Klasse der deutschen Sprinter gut tut. An den Abenden in Übersee wird dann auch schon mal gefachsimpelt. Man schaue sich gemeinsam Videos der fixen Kollegen aus aller Welt an. "Wir gucken, wer was besser macht und diskutieren stundenlang darüber", erzählte Reus in Ulm . "Da muss kein Bundestrainer dabei sitzen, kein Biomechaniker, wir Athleten beschäftigen uns selbst damit, weil wir alle ein bisschen was in der Birne haben." Auch der jamaikanischen Weltrekordhalter (9,58 Sekunden) Usain Bolt gehörte zu den Studienobjekten. Jakubczyk ist jedoch zu folgendem Schluss gekommen: "Er hat einen Laufstil, der nicht wirklich dem Optimum entspricht." Bolts großer Vorteil sei "seine körperliche Veranlagung", die langen Beine, die ihn mit 42 Schritten ins Ziel stürmen lassen. Andere Sprinter brauchen 44 bis 45 Schritte.

Also kann man sich von Usain Bolt nichts abgucken? Jakubczyk sagt: "Ich versuche ja auch nicht, mit meinem Peugeot so schnell zu fahren wie Nico Rosberg mit seinem Mercedes." Nach Staffel-Silber bei der EM in Helsinki vor zwei Jahren peilen die Männer um Reus und Jakubczyk für Zürich nun ganz offen Gold an. "Wir haben gegen jeden eine Chance", sagt der Berliner. Auch gegen die eigentlich dominierenden Briten, deren große Probleme in den vergangenen Jahren Disqualifikationen waren.

Über die magische Zehn-Sekunden-Schallmauer reden Reus und Jakubczyk nicht so gern. Vielleicht träumen sie davon. Wahrscheinlich sogar. Aber um das öffentlich zuzugeben, sind sie viel zu sachlich und strukturiert. Wenn es so weit kommt, werden sich in den Jubel über die neuen Helden auch Zweifel mischen. Ist eine Zeit unter zehn Sekunden ohne Doping möglich? "Natürlich wird das gefragt, damit muss man sich konfrontieren lassen", sagt Reus. "Aber ich habe da keinerlei schlechtes Gefühl, ich habe nie gesagt, dass man sauber nicht unter zehn Sekunden laufen kann oder dass es irgendeine Grenze gibt." Diese so weit wie möglich zu verschieben, das ist sein Job, sein Ziel, sein Traum.25 Weltrekorde , die unvergesslichen "Zehn-Komma-Null" auf einer Aschenbahn von Armin Hary : Das legendäre Letzigrund in Zürich ist der Leichtathletik-Tempel schlechthin - ein Sehnsuchtsort. Was für die Fußball-Fans das berühmte Maracana in Rio ist, ist für die Leichtathletik-Anhänger das Letzigrund. Ab Dienstag steigen in dem Rund die 22. Europameisterschaften .

1959 lief der damals erst 22 Jahre alte Martin Lauer aus Köln die ersten beiden Weltrekorde in der Geschichte des Meetings: in 13,2 Sekunden zuerst über 110 Meter Hürden, zwei Stunden später über 200 Meter Hürden in 22,5 Sekunden. Ein Jahr später schockte der "blonde Blitz" Armin Hary die Welt. Am 21. Juni 1960 rannte der Bergmanns-Sohn aus Quierschied als erster Mensch der Geschichte die 100 Meter gleich zwei Mal in 10,0 Sekunden. Unvergessen ist auch 1997, als Wunderläufer Haile Gebrselassie (5000 Meter), Wilson Kipketer (800 Meter) und Wilson Boit Kipketer (3000 Meter Hindernis) für drei Weltrekorde an einem Abend sorgten.

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