Die Suche nach neuen Stars

Rio de Janeiro · 2012 sorgte Alex Zanardi für eine der bewegendsten Geschichten der Paralympics. Auch in Rio wird der frühere Formel-1-Pilot einer der größten Stars sein. Als etwas Besonderes fühlt sich der 49-Jährige deswegen aber nicht.

 Er ist das Aushängeschild der deutschen Paralympics-Mannschaft: Weitspringer Markus Rehm. Bei der Eröffnungsfeier wird Rehm heute in Rio die deutsche Fahne tragen.Foto: kappeler/dpa

Er ist das Aushängeschild der deutschen Paralympics-Mannschaft: Weitspringer Markus Rehm. Bei der Eröffnungsfeier wird Rehm heute in Rio die deutsche Fahne tragen.Foto: kappeler/dpa

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Der eine hätte ihm fast den Olympia-Start nachgemacht, der andere könnte "sein" Gold gewinnen: Wenn bei den Paralympics in Rio de Janeiro ein Nachfolger für den gefallenen Superstar Oscar Pistorius (29) gesucht wird, hat Deutschland gleich in zweierlei Hinsicht heiße Eisen im Feuer.

Markus Rehm (28), der heute bei der Eröffnungsfeier die deutsche Fahneträgt, dürfte neben dem ehemaligen Formel-1-Piloten Alex Zanardi (49) aus Italien der weltweit bekannteste Athlet dieser Spiele sein. Als Einziger hätte der Weitsprung-Weltrekordler das Potenzial gehabt, wie der wegen Mordes an seiner Freundin im Gefängnis sitzende Pistorius im Kreise der Nichtbehinderten mitzuhalten - mit seiner WM-Weite von Katar 2015 (8,40 Meter) hätte er in Rio sogar Olympia-Gold gewonnen.

Der Start blieb ihm verwehrt, weil Rehm in den Augen des Weltverbandes IAAF nicht nachweisen konnte, dass seine Prothese kein Vorteil ist. Da er eine Menge Aufmerksamkeit für sein Thema geweckt hat, sieht Rehm seine Mission dennoch nicht als unerfolgreich an. Für die Zukunft hofft er weiter auf Teilnahmen an Wettbewerben der Nichtbehinderten. "Das Buch ist noch nicht geschlossen", sagte der Athlet.

In Katar war Rehm im Vorjahr der Star der Spiele, auch bei einer Inspektion vor wenigen Monaten in Rio musste er noch eine halbe Stunde für Fotos posieren, während die Kollegen leicht genervt im Bus saßen. "Die letzten zwei Jahre waren nicht immer einfach, da bin ich ganz ehrlich", erklärte er auch. Doch in Rio ist sein Ziel klar: Zwei Mal Gold und nahe rankommen an die 8,40 Meter.

In Pistorius' Klasse über 400 Meter hoffen sogar zwei Deutsche auf das früher für den Südafrikaner reservierte Gold . Favorit ist nach der Doping-Disqualifikation des US-Amerikaners Blake Leeper (27) der Leverkusener David Behre (29), der in Katar schon gewann. Pistorius, der ihn zum Sport brachte und dem er sich freundschaftlich verbunden fühlte, habe "uns paralympischen Sportlern den Weg geebnet, ins mediale Interesse zu rücken", sagte Behre: "Auf diese Klasse schaut die Medienwelt besonders. Es heißt: Wer wird der Thronfolger? Und ich hoffe, dass ich das am Ende bin." Falls nicht, stünde auch Vereinskollege Johannes Floors bei seiner Paralympics-Premiere bereit. "Ich hoffe, dass ein Deutscher Pistorius' Nachfolger wird. Das wäre grandios", sagte der 21-Jährige, der mindestens als Medaillenkandidat gilt.

Auch sonst hat Deutschland vor allem in der Leichtathletik bekannte Athleten. Ilke Wyludda (47) fehlt zwar verletzt, sie wäre die einzige Olympiasiegerin überhaupt im Feld gewesen. Doch Heinrich Popow (33), 100-Meter-Sieger von London und neuerdings Weitsprung-Weltrekordler, ist international eine Marke. Auch der kleinwüchsige Speerwerfer Mathias Mester (29), den man auch vereinzelt als Schauspieler sieht, die zuletzt sehr starke Weitspringerin Vanessa Low (26) oder die schon in London zweimal erfolgreiche Werferin Birgit Kober (45) sind schon über die Szene hinaus bekannt.

Dies gilt auch für Radsportler Michael Teuber (48), der schon vier Mal Gold holte und Ende August seine Biografie "Aus eigener Kraft" veröffentlichte. Für Edina Müller (33), die nach Gold 2012 im Rollstuhlbasketball nun als Weltmeisterin in die paralympische Kanu-Premiere geht. Für Andrea Eskau (45), die im Sommer mit dem Rad und im Winter als nordische Skifahrerin siegte. Und für Manuela Schmermund (44), 2004 Paralympics-Siegerin im Schießen und Athletensprecherin. Sie hat sogar einen Fan-Club auf Twitter . Die Kartenverkäufe steigen, die Sportler sind zufrieden, das Wetter ist prächtig: Kurz vor der Eröffnungsfeier im berühmten Maracanã-Stadion (heute, 23 Uhr/ZDF) hat Brasilien die Paralympics in Rio de Janeiro doch noch ins Herz geschlossen. Unmittelbar vor den ersten Weltspielen der Behindertensportler in Südamerika belasten das Ereignis zumindest nach außen weder der Doping-Bann Russlands noch die zuvor riesigen Geldnöte oder das befürchtete Organisations-Chaos. "Im Moment treffen praktisch jeden Tag positive Überraschungen ein", sagte Friedhelm Julius Beucher, Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes (DBS), der mit 155 Sportlern in Rio vor Ort ist.

Statt kommentieren zu müssen, was alles nicht klappt, sind die Organisatoren angesichts der plötzlichen Fortschritte auf allen Gebieten geradezu in Hochstimmung. Veranstaltungssprecher Mario Andrada verkündete voller Stolz "den Meilenstein" von mehr als 1,5 Millionen verkaufter Eintrittskarten. Und auch mit anderen Zahlen protzen die Gastgeber: 176 teilnehmende Nationen plus ein Flüchtlingsteam sind mehr als je zuvor. 528 Entscheidungen in erstmals 23 Sportarten sind ebenfalls ein Höchstwert. Vier Jahre zuvor in London waren es 503 Wettbewerbe in 21 Sportarten .

"Man muss fairerweise sagen: Zu den vor uns liegenden Spielen Rio 2016 gehören die am meisten herausfordernden Umstände, die ein Organisationskomitee jemals zu bewältigen hatte", sagte Sir Philip Craven, der Präsident des Internationalen Paralympischen Komitees. "Trotzdem bin ich vollkommen überzeugt, dass diese Spiele ein außerordentlicher Erfolg und in Bezug auf die sportlichen Leistungen ohne Zweifel auch die besten sein werden."

Das deutsche Team ist mit beträchtlichen Erfolgsaussichten nach Rio gereist. Angeführt von den Leichtathletik-Stars Markus Rehm und Marianne Buggenhagen, Handbikerin Andrea Eskau oder den goldenen Judo-Zwillingen Ramona und Carmen Brussig peilt der Verband einen Spitzenplatz in der Nationenwertung an. "Rein sportlich gesehen bin ich mit breiter Brust nach Rio gekommen", erklärte Verbandschef Beucher. Quer durch alle Sportarten habe man Welt- und Europameister im Aufgebot. "Das ist kein Garant für das Treppchen. Aber das ist eine gute Voraussetzung", sagte er. In London war mit 66 Medaillen (18 Gold , 26 Silber, 22 Bronze) Platz acht herausgesprungen.

Zwei der Bronzemedaillen gingen auf das Konto der Saarländerin Claudia Nicoleitzik, die auch in Rio auf dem Podest stehen will. Die Leichtathletin vom TV Püttlingen ist die große saarländische Hoffnungsträgerin. Neben ihr starten in Rio auch Schwester Nicole Nicoleitzik, Vanessa Braun und Maike Hausberger vom Stützpunkt Saarbrücken. Michael Schumacher sprach von einer "sehr schönen Geschichte", Niki Lauda hatte es sogar "die Tränen in die Augen gehauen". Als Alex Zanardi nach seiner zweiten Goldfahrt 2012 in London auf den Beinstümpfen stehend sein Rennrad in die Luft reckte, waren Fans und Weggefährten über alle Maßen gerührt.

Am 14. und 15. September wird Zanardi bei den Paralympics in Rio mit dem Handbike an den Start gehen. Ausgerechnet am 15. September. Denn dann ist es auf den Tag genau 15 Jahre her, dass der Italiener in einem Rennen der Champ-Car-Serie auf dem Lausitzring schwer verunglückte. "Mir riss es beide Beine aus, eins oberhalb des Knies, eins unterhalb", berichtet er. Sein Motto danach: "Ich habe meine Beine verloren, aber nicht meinen Humor."

Mit launigen Sprüchen stellte der heute 49-Jährige immer wieder klar, dass es keinen Grund gibt, den Lebensmut zu verlieren. Er stehe mit beiden Beinen im Leben, scherzte er. Fühle sich mit so viel deutschem Blut durch die damaligen Konserven fast schon wie ein Deutscher. Und: "Wenn ich mir jetzt noch mal die Beine breche, brauche ich nur noch einen Inbusschlüssel."

 Die saarländischen Leichtathletinnen Claudia Nicoleitzik, Nicole Nicoleitzik, Vanessa Braun und Maike Hausberger (von links) freuen sich auf ihre Wettkämpfe in Rio de Janeiro. Foto: Ruppenthal

Die saarländischen Leichtathletinnen Claudia Nicoleitzik, Nicole Nicoleitzik, Vanessa Braun und Maike Hausberger (von links) freuen sich auf ihre Wettkämpfe in Rio de Janeiro. Foto: Ruppenthal

Foto: Ruppenthal

Mindestens genauso bemerkenswert sind aber der Wille und Kampfgeist, mit denen Zanardi einfach weiter Sportler blieb. 2006 fuhr er in Valencia als erster beinamputierter Testfahrer für BMW 30 Runden auf dem Kurs in Valencia. Und eine neue Berufung fand er mit dem Handbike. Trainierte wie ein Besessener das Fahren der mit den Armen betriebenen Räder. Gewann in London zwei Mal Gold und erklärte seine Paralympics-Karriere für beendet. Doch schnell packte ihn wieder der Ehrgeiz. Dass er für viele Menschen ein Vorbild ist, ist ihm bewusst. Die Rolle als Mutmacher übernimmt er gerne. Als etwas Besonderes fühlt er sich nicht: "Ich habe weder das Recht noch einen Grund dafür, mich besonders zu fühlen." Das sehen freilich viele anders.

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