Der Staatsfeind Nummer eins
Park City · Grigori Rodtschenkow, ehemaliger Leiter des Moskauer Anti-Doping-Labors, hat den größten Doping-Skandal der jüngeren Vergangenheit ins Rollen gebracht. Alles begann mit dem Dokumentarfilm Icarus, der heute seine Premiere feiert.
Der Alltag von Grigori Rodtschenkow erweckt nur auf den ersten Blick den Eindruck von Normalität. Er kocht Borschtsch, einen russischen Eintopf, arbeitet in seinem Garten, schreibt Tagebuch. Doch der Schein trügt: Der ehemalige Leiter des Moskauer Anti-Doping-Labors, der im vergangenen Jahr den größten Doping-Skandal der jüngeren Geschichte aufdeckte, lebt in den USA im Exil. Und in Todesangst.
Werden Köpfe rollen?
Heute feiert die Dokumentation "Icarus" beim renommierten Sundance Film Festival in Park City Premiere. Hauptdarsteller: Rodtschenkow, der im Doping-Skandal vom Täter zum Kronzeugen geworden ist. Nun wartet die Sportwelt gespannt darauf, ob der Russe in dem Film weiteres Insider-Wissen preisgibt - oder sogar mächtige Personen beschuldigt.
"Einige Quellen aus dem Dunstkreis des Kremls sagen, dass Putin und einige seiner engsten Minister mit Sorge darauf schauen, was Rodtschenkow sagen wird", schrieb die Zeitung "Mail on Sunday": "Seine Beweise werden das Regime nicht stürzen, aber es könnten Köpfe rollen." Schon im Juli 2013 hatte die englische Tageszeitung als erste über Doping-Vertuschung im Moskauer Anti-Doping-Labor berichtet und auch Rodtschenkow als einen der Haupttäter benannt. Lange vor den Olympischen Spielen 2014 in Sotschi, bei denen Rodtschenkow in Zusammenarbeit mit dem russischen Geheimdienst Dutzende Proben russischer Sportler austauschte.
Im vergangenen Mai hatte er dann in der Zeitung "New York Times" ausgepackt - und wenige Wochen vor Olympia in Rio den Sport in eine Krise gestürzt. Inzwischen fanden zwei Untersuchungsberichte des kanadischen Ermittlers Richard McLaren heraus, dass mehr als 1000 russische Sportler von einem institutionalisierten Doping-System profitiert haben.
Als Regisseur Bryan Fogel vor drei Jahren erstmals mit Rodtschenkow Kontakt aufnahm, war eine solche Wendung seiner Geschichte in keinster Weise vorherzusehen gewesen. Denn ursprünglich hatte Fogel ein völlig anderes Thema seiner Dokumentation im Sinn gehabt. Er wollte zeigen, welche Auswirkungen Doping auf einen Amateursportler haben. Mit ihm selbst als Hauptdarsteller und Versuchskaninchen. Rodtschenkow, damals noch ein renommierter Doping-Forscher, sollte ihm eigentlich nur als Berater zur Seite stehen.
Doch es kam ganz anders - oder wie es die offizielle Film-Ankündigung der 110-minütigen Dokumentation pathetisch ausdrückt: "Ein Treffen mit einem russischen Wissenschaftler veränderte die Geschichte von einem persönlichen Experiment in einen geopolitischen Thriller. Inklusive dreckigem Urin, ungeklärten Todesfällen und olympischem Gold."
Ungeklärte Todesfälle
Ein Bericht der Welt-Anti-Doping-Agentur hatte zwischenzeitlich enthüllt, wie tief Rodtschenkow in den Doping-Sumpf verstrickt ist. Als "Herz" des Skandals wurde er bezeichnet. Er trat wenig später zurück und floh aus Angst um sein Leben mit Hilfe von Fogel in die USA.
Anfang Februar 2016 war zunächst Wjatscheslaw Sinew, Gründer der russischen Anti-Doping-Agentur (Rusada), tot aufgefunden wurden. Nicht einmal zwei Wochen später starb Nikita Kamajew. Der ehemalige Rusada-Geschäftsführer soll ein Buch über die Geschichte des Dopings in Russland geplant haben. Offiziell sollen beide unter Herzproblemen gelitten haben. Heute könnte es dazu neue Infos geben, wenn ein weiteres Kapitel in dem Skandal aufgeschlagen wird.