Der Chef der wilden Kerle

Belo Horizonte · Als Spion im Baum, während einer Bildungsreise auf der Straße geschlafen: Chiles Jorge Sampaoli ist kein gewöhnliche Trainer. Im Achtelfinal-Spiel gegen Brasilien an diesem Samstag (18 Uhr/ARD) könnte seine größte Stunde schlagen.

Jorge Sampaoli fuhr hunderte Kilometer mit dem Auto durch die Nacht, dann versteckte er sich in einem Baum. Mit dem Fernglas in der Hand beobachtete er jede Regung, jede Anweisung seines Gurus Marcelo Bielsa. Es war nur ein Training, ein stinknormales Training, das Bielsa leitete. Doch für Sampaoli war und ist jedes Training, jeder Gedanke Bielsas über Fußball viel mehr - es ist fast schon eine religiöse Erweckung.

"Bielsa ist ein Ideal und eine Inspiration für mich", sagt Sampaoli, der Trainer und Anführer der wilden Kerle aus Chile . In Südamerika nennen sie Bielsa nur "El Loco", den Verrückten. Doch Sampaoli ist mindestens genau so obsessiv wie sein Vorvorgänger als Nationaltrainer.

Als Amateurtrainer in der Provinz von Argentinien, Peru oder Ecuador versteckte sich der heute 54-Jährige nicht nur in Bäumen, sondern tourte auf eigene Rechnung auch durch Europa, um sich in Spanien, Italien und den Niederlanden neue Ideen, neue Impulse zu holen. Das Geld war schnell alle. "Das Schwierigste war, dass wir oft nichts zu essen und keinen Ort zum Schlafen hatten", sagt Sampaoli - also kampierte er so manche Nacht auf der Straße.

Schlaf ist für Sampaoli ohnehin nur vergeudete Zeit. Vier Stunden müssen reichen, spätestens um fünf Uhr morgens klingelt sein Wecker, und Sampaoli stürzt sich in die Arbeit - Videoschulung, Taktikanalyse, Trainingsvorbereitung. Vor den Einheiten stellt Sampaoli selbst die Hütchen auf - mit so viel Liebe und Akribie, als wären sie der Heilige Gral. Chiles Stürmer-Ikone Ivan Zamorano nennt ihn zu Recht ein "Arbeitstier". Die Familie blieb bei so viel Hingabe indes auf der Strecke. "Ich habe sie dem Fußball geopfert", sagt er und scheint es nicht zu bereuen: "Es ist nun mal, wie es ist."

Sampaolis Weg zum Trainer von Chile , der ihn bis ins Achtelfinale an diesem Samstag gegen das große Brasilien (18 Uhr/ARD ) geführt hat, ist mehr als erstaunlich. Er wuchs in der echten Pampa Argentiniens auf und musste als 19-Jähriger nach einem doppelten Beinbruch die angestrebte Karriere als Profi begraben. "Nie wieder Fußball", schwor er sich und wurde zunächst Bankangestellter und in seinem Heimatdorf Casilda Friedensrichter. Dann trat Bielsa in sein Leben, der Anfang der 90er Jahre Sampaolis Lieblingsclub Newell's Old Boys trainierte - Sampaoli nahm sogar Pressekonferenzen seines Idols auf, um sie sich immer wieder auf dem Walkman anhören zu können.

Wie 2010 unter Lehrmeister Bielsa sind die Chilenen unter Sampaoli wohl die kompromissloseste Mannschaft der WM - Attacke, Attacke und nochmals Attacke. Spaniens Trainer Vicente del Bosque nannte den Stil nach dem 0:2 seiner Elf gegen Chiel in der Vorrunde "selbstmörderisch" - Sampaoli hat das gefallen.

Mit den Anführern Arturo Vidal (Juventus Turin ) und Alexis Sanchez (FC Barcelona ) hat er eine Mannschaft von Kriegern geformt, die leidenschaftlich verteidigt und in der Offensive wie ein wild gewordener Schwarm Moskitos über den Gegner herfällt. "Wir gehen jedes Spiel an, als wäre es unser letztes", sagt Sampaoli - das soll am Samstag auch Brasilien mit WM-Star Neymar zu spüren bekommen. Wenn Chile erstmals seit 1962 wieder ein WM-Viertelfinale erreichen sollte, wäre sicher auch Bielsa stolz auf seinen Jünger.

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Auf einen BlickBrasilien ist im Achtelfinal-Kracher gegen Chile zum Siegen verdammt. Alles andere als ein Weiterkommen würde das Land in ein Tal der Tränen stürzen. Der Respekt ist gewaltig. "Hätte ich die Wahl gehabt, ich hätte sie sicher nicht ausgesucht", sagt Brasiliens Trainer Luiz Felipe Scolari, der alle Hoffnungen in Stürmer Neymar setzt. Vier der sieben bisher Treffer Brasiliens gingen auf das Konto des 22-Jährigen. sid

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