Das System Löw steht auf dem Prüfstand

Rio de Janeiro · Bundestrainer Joachim Löw muss vor dem heutigen WM-Viertelfinale gegen Frankreich einige wichtige Personal- und Systemfragen klären. Der Druck ist riesig, ein Scheitern wäre eine große Enttäuschung.

Zwischen Mythos Maracana und Personaldebatten, zwischen Traum und Trauma, zwischen Halbfinale und Heimflug: Bundestrainer Joachim Löw steht vor dem heutigen WM-Viertelfinale (18 Uhr/ARD ) in Rio de Janeiro gegen Frankreich unter gehörigem Druck. Sollte die deutsche Nationalmannschaft auch im vierten Anlauf unter der Regie des 54-Jährigen das hoch gesteckte Ziel nicht erreichen, dürfte das ganze System Löw ins Wanken geraten - Vertrag bis 2016 hin oder her.

Doch daran verschwenden die DFB-Verantwortlichen (noch) keine Gedanken. Vielmehr ist seit dem erzitterten 2:1 nach Verlängerung im Achtelfinale gegen Algerien eine hitzige Diskussion um System und Personal entbrannt, in deren Mittelpunkt Kapitän Philipp Lahm steht. Zwar machten Löw und sein Stab um die Aufstellung zunächst wie immer ein Staatsgeheimnis - ins Grübeln hat die jüngste Darbietung den Bundestrainer aber allemal gebracht.

Als wahrscheinlich gilt, dass Mario Götze eine Pause erhält und wohl durch Algerien-Torschütze André Schürrle ersetzt wird. Die spannende Frage aber ist: Springt Löw gegen die Franzosen über seinen Schatten? Wirft er seinen ursprünglichen WM-Plan um und zieht Lahm (30) in die Abwehr zurück? Oder hält er stur an seinen Prinzipien fest? "Es ist ja nicht so, dass alles so bleiben muss, nur weil der Bundestrainer sich mal vor Zeiten darauf festgelegt hat. Wir halten nicht stur an einer Linie fest, sondern diskutieren über die aktuelle Situation", sagte Torwarttrainer Andreas Köpke immerhin.

Sollte Lahm wie in den letzten 50 Minuten gegen Algerien auf der rechten Seite verteidigen, hätte dies für andere Positionen weitreichende Folgen. Jerome Boateng würde wohl wie bei der WM 2010 auf die linke Seite der Viererkette rutschen, der wiedergenesene Mats Hummels neben Per Mertesacker innen verteidigen. Und den frei gewordenen Platz vor der Abwehr könnte Sami Khedira neben Bastian Schweinsteiger einnehmen - wie bei den Turnieren 2010 und 2012. Es gibt nicht wenige, wohl auch in der Mannschaft, die dieser Variante positiv gegenüber stehen. Zumal Köpke am Mittwoch betont hatte, dass Schweinsteiger und Khedira auch "über 90 Minuten gehen können". Lahm hält sich aus der Debatte heraus: "Das ist die Entscheidung des Trainers."

Vereinskollege Manuel Neuer hält einen Außenverteidiger Lahm für eine Bereicherung für das deutsche Spiel. "Philipp sorgt für mehr Schwung", sagte der Torhüter, es käme über außen "mehr Druck" im Gegensatz zur bisherigen Defensiv-Variante mit vier Innenverteidigern auf einer Linie. Von solchen Stimmen aus der Mannschaft will sich der Trainerstab aber genauso wenig beeinflussen lassen wie von der geballten Kritik aus Deutschland. "Wir müssen das machen, wovon wir überzeugt sind, dass es für den Erfolg des Teams die beste Lösung ist", sagte Köpke.

Mythos Maracana

Zum Erfolg soll diesmal auf jeden Fall auch der Mythos Maracana beitragen. "Nehmt dies am Freitag mit dem Ziel an, möglichst zweimal dort zu spielen. Ihr habt es drin. Wir glauben fest daran", sagte DFB-Präsident Wolfgang Niersbach. Im legendären Maracana findet am 13. Juli auch das Finale statt. "Da können wir schon ein paar Eindrücke vom Stadion, vielleicht auch von der Copacabana oder von der Jesus-Statue sammeln", sagte Neuer.

Zunächst wartet jedoch Frankreich - und danach womöglich der Sieger aus der Partie Brasilien gegen Kolumbien. So weit will Löw aber ohnehin nicht denken. "Schritt für Schritt" müsse man so ein Turnier angehen - und der nächste Schritt sei beschwerlich genug. Er wandelt auf den Spuren des Kaisers, doch Vergleiche mit Franz Beckenbauer interessieren den französischen Nationaltrainer Didier Deschamps nicht. Der 45-Jährige ist nicht scharf auf persönliche Rekorde, dafür ist er zu sehr Teamspieler. Und ohne die Fähigkeit, die Mannschaft in den Vordergrund zu stellen, hätte er wohl auch nicht diesen Erfolg. Denn Deschamps hat die schwächelnde Equipe Tricolore auf Kurs gebracht, und bei der WM in Brasilien will er die Früchte seiner Arbeit ernten.

Disziplin-Fanatiker, Kämpfer, Spielerfreund - Deschamps kommt an. "Es ist meine Aufgabe, mich neben dem Sportlichen auch um Zwischenmenschliches zu kümmern. Die neue Spielergeneration ist oftmals egoistischer und individualistischer, als wir es waren. Deshalb lege ich viel Wert auf das, was abseits des Platzes passiert", sagt Deschamps.

Mit seiner Art hat er als Nachfolger von Laurent Blanc "Les Bleus" vor dem heutigen Viertelfinale (18 Uhr/ARD ) in Rio de Janeiro gegen Deutschland in eine Verfassung gebracht, die alles möglich erscheinen lässt. Die Handschrift ihres Trainers ist der Mannschaft deutlich anzumerken. Die Franzosen agieren diszipliniert und mit enormem Selbstvertrauen.

Deschamps hat es geschafft, dass die Spieler an sich glauben - und an das Ziel, in Brasilien den Titel zu holen. "Man kann die besten Spieler der Welt haben - wenn die Mentalität nicht stimmt, kommt man nicht weit", sagt der Trainer, der seinen Vertrag vor der Weltmeisterschaft um zwei Jahre bis zur Heim-EM 2016 verlängert hat.

Deschamps' Mentalität stimmte immer. Zu seiner aktiven Zeit galt er als einer der besten defensiven Mittelfeldspieler der Welt (103 Länderspiele/vier Tore). Seine harte Arbeit wurde belohnt: Weltmeister, Europameister, Champions-League-Sieger, Meister in Frankreich und Italien - er hat alles gewonnen. Und mit dem WM-Triumph würde er in die Fußstapfen Beckenbauers, der 1974 als Spieler und 1990 als Teamchef Weltmeister wurde, treten. Doch daran verschwendet der Franzose keinen Gedanken: "Ich betreibe keine Hochrechnungen." Dabei ist seine bisherige WM-Bilanz als Spieler und Trainer imponierend: zehn Spiele, keine Niederlage.

Die Tage in Brasilien ("Ich schlafe hier sehr gut") genießt Deschamps - die Auftritte seiner Mannschaft sowieso. Ohnehin ist die Arbeit als Nationaltrainer für ihn ein Traumjob. Nach seinem Abschied 2012 nach drei Jahren aus Marseille - 2010 führte er Olympique zum Gewinn der Meisterschaft - war Deschamps am Ende, ausgelaugt. Eine Thalasso-Therapie und eine Diät trugen zur Erholung bei. "Die Jahre in Marseille waren hart. Im Wochenend-Rhythmus gefordert und täglich eingespannt zu sein, zehrt aus", sagt Deschamps: "Der ständige Druck, die Erwartungen - das hat sich körperlich ausgewirkt. Am Ende ging es mir richtig schlecht." Daher vermisst er den Liga-Alltag nicht. Nationaltrainer zu sein, stellt er fest, sei ein großer Genuss. Einzig das Trikot selbst zu tragen, sei noch schöner. Doch die Zeiten sind natürlich vorbei.

Deschamps weiß um die Verantwortung, die er trägt. "Wir wollen alle Franzosen stolz machen", sagt Deschamps. Er ist auf einem guten Weg dazu - geduldig, aber auch unnachgiebig. Das bekam Stürmer Karim Benzema, der in Brasilien richtig aufblüht, ebenso schon zu spüren wie Samir Nasri, der nicht für die WM nominiert wurde.

"Er ist ein Vollprofi, der nie aufgibt und immer kämpft", urteilt Nigerias zurückgetretener Nationaltrainer Stephen Keshi, der Deschamps während seiner Spielerlaufbahn in Frankreich kennen lernte. Diese Worte beschreiben den Franzosen-Kaiser ziemlich treffend.

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Auf einen BlickEine energische Geste mit dem Arm, ein scharfer Blick unter dem strengen Seitenscheitel - Nestor Pitana weiß genau, wie er sich durchsetzen kann. Der argentinische Schiedsrichter pfeift das brisante WM-Viertelfinale der deutschen Nationallef in Rio de Janeiro gegen Frankreich.Bisher hat Pitana die Spiele Russland gegen Südkorea (1:1), der deutschen Gruppengegner Portugal und USA (2:2) sowie Honduras gegen Schweiz (0:3) geleitet - alle unaufgeregt, souverän und ohne große Fehler. Der 39-Jährige hat einen sehr schnellen Aufstieg hinter sich. Erst seit vier Jahren pfeift der 1,93 Meter große Hüne international. Brasilien ist seine erste Weltmeisterschaft. sid

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