Tennis Das neue Leben als Student und Familienvater

Waco · Der Saarländer Benjamin Becker hat seine Karriere als Tennisprofi beendet. Der 36-Jährige blickt mit Stolz auf die zwölf Jahre zurück.

 Aus und vorbei: Nach zwölf Jahren auf der ATP-Tour hat der Orscholzer Benjamin Becker seine Karriere als Tennisprofi beendet.

Aus und vorbei: Nach zwölf Jahren auf der ATP-Tour hat der Orscholzer Benjamin Becker seine Karriere als Tennisprofi beendet.

Foto: dpa/Kiyoshi Ota

Benjamin Becker kommt gerade aus der Bibliothek. „Die letzten beiden Wochen waren eine gewaltige Umstellung. Ich merke gerade, dass ich nicht so gut bin im effektiven Lernen. Aber es wird besser“, sagt der 36-Jährige im Telefonat mit der SZ. Er erlebt ein totales Kontrastprogramm – vom Tennisprofi zum Studenten. Becker ist zurück an der Baylor-Universität in Waco/Texas. Dort, wo einst der wundersame Aufstieg des kleinen Benni aus Orscholz zu einem der besten Tennisspieler der Welt begonnen hat.

Nach vier Jahren Uni fehlt Becker noch ein Semester zum Abschluss als „Bachelor of business“. Und so hat sich der Saarländer eine kleine Wohnung gemietet nahe des Campus’, knapp zwei Autostunden von seiner Heimat Dallas entfernt. Er besucht Vorlesungen, isst Kleinigkeiten zwischendurch, paukt. Alles wie früher. Ein Student eben. „Es ist schon seltsam, hier zu sein. Aber ich bin ein Perfektionist, und ich will das jetzt zu Ende bringen“, sagt Becker. Knapp eine Woche nach seinem offiziell verkündeten Karriereende ist Becker längst in seinem neuen Leben angekommen.

„Wenn ich die Wahl hätte, ich würde alles genauso wieder machen“, sagt Becker: „In die USA gehen, erst das College, dann ins Profigeschäft einsteigen. Im Großen und Ganzen bin ich sehr zufrieden. Ich habe das Maximale herausgeholt.“ Es ist unverkennbar: Becker ist stolz auf sich und auf das, was er in seinen zwölf Jahren als Profi geleistet hat. „Es war schon immer mein Traum, zu den besten 100 der Welt zu gehören, zu dieser elitären Gruppe, die sich direkt für das Hauptfeld der Grand-Slam-Turniere qualifiziert. Und das habe ich – abgesehen vom Anfang und vom Ende meiner Laufbahn – über Jahre hinweg geschafft.“

Drei Mal gelang ihm sogar der Sprung unter die besten 40 der Rangliste, in unterschiedlichen Jahren, auch nach Verletzungen. Vier Mal spielte er für Deutschland im Davis Cup. „Ich habe das als große Ehre empfunden, mein Land zu vertreten, den Adler auf der Brust und den eigenen Namen auf dem Rücken zu tragen“, sagt Becker. Dass er seine drei Einzel und ein Doppel verloren hat („Ich wollte es zu gut machen“), darüber kann er hinwegsehen.

„Ich habe auf den größten Anlagen der Welt gegen die Besten der Welt gespielt. Tennisprofi zu sein, ist ein Traumjob. Auch wenn man von außen die Knochenarbeit, die dahintersteckt, gar nicht sieht“, sagt Becker: „Die breite Masse, die Jungs zwischen den Plätzen 50 und 400, kämpfen Woche für Woche um jeden Punkt, um jeden Dollar zum Leben. Dieser Druck zehrt an einem. Du musst 24 Stunden an jedem Prozent Leistung arbeiten, um besser zu sein als deine Gegner.“ Gelernt habe er dies erst an der Universität. Bei den Baylor Bears, mit denen Becker 2004 sensationell die College-Meisterschaft gewonnen hatte.

Nach dem Einstieg ins Profigeschäft ging es für den Orscholzer schnell bergauf – aber immer außerhalb des Radars der Öffentlichkeit. Bis zum 3. September 2006. In der dritten Runde der US Open trifft Becker auf den US-Superstar Andre Agassi, der im Vorfeld angekündigt hatte, in Flushing Meadows seine Karriere zu beenden. Und Becker ist der, der es tut: 7:5, 6:7 (4:7), 6:4, 7:5. Agassis Landsmann Andy Roddick, gegen den Becker im Achtelfinale ausscheidet, nennt ihn den, der „Bambi erschossen hat“. Die Medien stürzen sich auf ihn, Becker ist weltweit in aller Munde.

„Ich weiß nicht, wie oft ich diesen Sieg verflucht habe“, sagt Becker: „Über Jahre habe ich mich auf dieses Spiel reduziert gefühlt. Es war ein besonderes Erlebnis, aber schnell eine Bürde, der ich nicht gerecht werden konnte. Diesen Sieg zu übertreffen, war nicht im Rahmen meines Potenzials.“ Becker braucht lange, um mit der Aufmerksamkeit und der Erwartungshaltung klarzukommen, zumal beides so gar nicht zu seiner Persönlichkeit passt. Der bodenständige, zurückhaltende Junge aus Orscholz hatte sich unter dem Radar sehr viel wohler gefühlt.

Doch Becker geht seinen Weg trotzdem weiter. Klettert in der Rangliste. Überrascht bei Turnieren. Vor allem in s’Hertogenbosch in den Niederlanden. 2009 stürmt er bei dem Vorbereitungsturnier auf Wimbledon über die Qualifikation zum Turniersieg. Es ist sein erster und einziger Titel auf der ATP-Tour. 4,4 Millionen US-Dollar Preisgeld erspielt er über die Jahre, seine höchste Platzierung in der Rangliste ist die Nummer 35 am 27. Oktober 2014. „Es gibt ganz viele Situationen, denen ich hinterherweine. Einzelne Matches, in denen ich mich vielleicht nicht getraut hatte, mehr zu riskieren“, sagt Becker heute. Er hat ein verdammt gutes Gedächtnis, zählt sogar Szenen auf, in denen er seine Vorhand die Linie herunter hätte spielen müssen statt cross. Ein Perfektionist eben.

Umso schwerer fallen ihm die letzten Monate auf der Tour. Sein letztes Match bestritt Becker Anfang Juli in Wimbledon. In der zweiten Runde der Qualifikation unterliegt er dem Ukrainer Illya Marchenko mit 6:3, 6:7 (3:7), 4:6. Das Ende war da schon längst absehbar. Im Grunde beginnt es bei den French Open 2016 in Paris. Becker zieht sich einen Riss in der Brustmuskulatur zu, der ihn stark einschränkt. Im Oktober 2016 beim ATP-Turnier in Wien kann er nach seinem Spiel gegen den Franzosen Jo-Wilfried Tsonga (3:6, 4:6) kaum mehr gehen. Der Beckenrand ist entzündet. Becker bricht die Saison ab, sucht Ärzte auf. Keiner kann wirklich helfen, einer empfiehlt ihm eine sechsmonatige Pause. So will Becker aber nicht aufhören. Ohne echte Vorbereitung startet er im Januar wieder einen Versuch, aber er schleppt sich nur noch von Turnier zu Turnier, wenn er denn überhaupt spielen kann.

Im Sommer, auf seinem Lieblingsbelag Rasen, will er noch mal glänzen. Doch auch das misslingt. „Ich hatte gehofft und erwartet, besser zu spielen. In solchen Momenten ist man kein Realist. Man denkt einfach, es gehe noch wie vor drei Jahren“, sagt Becker. Heute weiß er es besser. „Ich konnte ja nicht mal zwei harte Trainingseinheiten hintereinander absolvieren. Es waren Welten dazwischen zu dem, was ich früher trainiert habe. Und ich habe einfach zu hohe Ansprüche an mich selbst.“ Nach Wimbledon spielt Becker noch in einer US-Liga, aber selbst dafür reicht es kaum noch. Er informiert den Deutschen Tennis-Bund, der das Karriereende vergangene Woche veröffentlicht. „Ich hatte so viele Anfragen zuletzt, wie es mir geht und wann ich wieder spielen werde, das war so dann der beste Weg, alle zu erreichen“, sagt Becker.

Zu dem Zeitpunkt kümmert er sich längst um seine Zukunft. Den Abschluss an der Uni will er unbedingt machen, auch weil er Voraussetzung für seinen neuen Job ist. Ab Sommer 2018 wird Becker an der Southern Methodist University (SMU) in Dallas als Assistenztrainer arbeiten. Er will seine Erfahrung an der Stelle weitergeben, wo er selbst am meisten davon profitierte. „Ich habe vor der Zeit im College nie verstanden, was es heißt, richtig zu trainieren, alles für seine Karriere zu tun, diese einmalige Chance zu nutzen“, sagt Becker: „Es geht darum, von den Besten zu lernen. Aber nicht, was sie auf dem Centre Court tun, sondern was sie drumherum investieren, um besser zu werden.“

 Für seine Fans hat sich Benjamin Becker immer Zeit genommen. Tennisprofi gewesen zu sein, bezeichnet er heute als „Privileg“.

Für seine Fans hat sich Benjamin Becker immer Zeit genommen. Tennisprofi gewesen zu sein, bezeichnet er heute als „Privileg“.

Foto: Imago/Claus Bergmann
 Es ist eine Szene, die um die Welt geht: Benjamin Becker besiegt Andre Agassi und beendet am 3. September 2006 dessen Karriere.

Es ist eine Szene, die um die Welt geht: Benjamin Becker besiegt Andre Agassi und beendet am 3. September 2006 dessen Karriere.

Foto: picture-alliance/ dpa/epa Justin Lane
 Für Benjamin Becker war der Davis-Cup eine besondere Ehre: Hier posiert er mit Tommy Haas (links) und Teamchef Patrik Kühnen (Mitte).

Für Benjamin Becker war der Davis-Cup eine besondere Ehre: Hier posiert er mit Tommy Haas (links) und Teamchef Patrik Kühnen (Mitte).

Foto: ROBERTODIAZ/NWR

Das wird Becker nun weitergeben – und sich um seine Familie kümmern. Frau Kristin erwartet im Januar das dritte Kind. Nach Colin (5) und Connor Jacob (fast 3) ist es wieder ein Junge. „Mädchen kann ich nicht“, sagt Becker und lacht. Im nächsten Sommer will er mit der Familie mal wieder auf Heimatbesuch ins Saarland kommen. Mal eben so zwischendrin, wie es der Tour-Kalender zugelassen hatte, wird das künftig nicht mehr gehen. Benjamin Becker hat jetzt ein neues Leben. Student, bald Uni-Trainer. Und Familienvater. Das Leben als Tennisprofi ist vorbei.

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