Fußball Das Mutterland auf der Überholspur

London · Der englische Fußball hat vor allem im Nachwuchsbereich eine Entwicklung hingelegt, die nicht nur Joachim Löw beeindruckt.

 Flügelflitzer Raheem Sterling von Manchester City hat den Ball fest im Visier. Sterling ist einer der jungen Wilden, die für die Zukunft des englischen Fußballs stehen.

Flügelflitzer Raheem Sterling von Manchester City hat den Ball fest im Visier. Sterling ist einer der jungen Wilden, die für die Zukunft des englischen Fußballs stehen.

Foto: dpa/Rui Vieira

London ist vielfältig. London ist groß. Und in London wird viel großer Fußball gespielt. Nirgendwo sonst ist die Dichte an erstklassigen Vereinen größer als in diesem multikulturellen Schmelztiegel. Ziemlich weit draußen, aber gut erreichbar mit der Metropolitan Line, Haltestelle Wembley-Park, befindet sich das Heiligtum. Das Wembley-Stadion, in dem gerade Tottenham Hotspur seine Heimpartien austrägt. Ansonsten wird die legendäre Kathedrale nur zu besonderen Anlässen bespielt.

Wie am Freitag zum Länderspiel England gegen Deutschland (21 Uhr/ZDF). Oder beim FA-Cup-Finale. Oder einem Champions-League-Endspiel. Letztmals war Wembley am 25. Mai 2013 der Schauplatz einer solchen Inszenierung. Ein Ereignis, das nicht nur für den Gewinn der Weltmeisterschaft der deutschen Nationalmannschaft ein Jahr später wegweisend sein sollte, sondern auch noch einmal das englische Selbstverständnis als führende Fußballnation berührte.

Gewiss, die pulsierende Metropole an der Themse hat damals die deutschen Vorzeigevereine Bayern München und Borussia Dortmund mit sehr offenen Armen empfangen. Aber in die höfliche Verbeugung mischte sich zwischen Trafalgar Square und Piccadilly Circus bereits die Frage: Was müssen wir tun, um dasselbe zu schaffen? Auf Vereinsebene. Aber auch in der Verbandsarbeit. Einfach nur zusehen, wie deutsche Gäste hier ihre fußballerische Potenz demonstrieren, sollte Großbritannien bitte kein zweites Mal passieren.

Viereinhalb Jahre später ist tatsächlich viel geschehen. „England ist so stark wie seit Jahren nicht und verfügt über viele gute junge Spieler“, findet Bundestrainer Joachim Löw: „Der englische Fußball hat sich enorm weiterentwickelt, was nicht zuletzt die jüngsten internationalen Erfolge der Nachwuchsmannschaften beweisen.“ Ein sachdienlicher Hinweis. Denn 2017 ist ein schier unfassbar erfolgreiches Jahr für den englischen Juniorenbereich. Die U17 entschied Ende Oktober mit einem 5:2 nach 0:2-Rückstand gegen Spanien das WM-Endspiel in Indien für sich. Im Konfettiregen von Kalkutta heimsten die „Young Lions“ bereits den dritten Titel ein: Erst im Juni hatte auch die U20 in Südkorea eine WM gewonnen. Und zwischendrin die U19 in Georgien die EM. Eine unerwartete Trophäensammlung für den englischen Verband FA.

„Es mag 21 Jahre her sein, dass letztmals eine englische A-Nationalmannschaft das Halbfinale eines großen Turniers erreicht hat, aber auf allen anderen Ebenen stehen die Zeichen sehr gut“, stellte die BBC fest. Und Legende Gary Lineker verkündete: „Wir haben eine neue goldene Generation.“ Zumindest kommen junge Kicker zum Vorschein, die nicht dem gängigen Stereotyp vom „Kick and rush“ entsprechen. Phil Foden (Manchester City), als bester Akteur der U17-WM ausgezeichnet, oder Jadon Sancho (Borussia Dortmund), nach der Vorrunde nach Deutschland zurückbeordert, bringen als 17-Jährige vieles von dem mit, was deutsche Toptalente in die Waagschale werfen: Tempo und Technik, Spielwitz und Spielverständnis.

Der Quell sprudelt nicht von ungefähr. 2012 weihte die FA nicht nur das St. George’s Park National Football Centre als neues Kraftzentrum der englischen Nationalteams ein, sondern legte auch einen Elite Player Performance Plan (EPPP) auf, der nach deutschem Vorbild eine Professionalisierung des Jugendfußball beinhaltete, um „einen stärkeren Fokus auf Technik, Physis und Intensität“ zu legen. Die Attraktivität der Premier League speist sich zwar weiterhin zumeist aus ihren ausländischen Stars. Doch abseits davon werden Regionalverbände und Clubs gefördert, um beispielsweise nach einem Bonussystem die Jugendarbeit durch alle Altersklassen (U9 bis U21) zu verbessern. „Der Fokus auf die Jugend war nie so intensiv“, sagt der Jugenddirektor der Premier League, Ged Roddy.

Das Problem nur: Wer von den Hoffnungsträgern kommt wirklich ganz oben an? Da acht Spieler der fixen 25er-Kader in England ausgebildet sein müssen, hat bei den Topclubs der Premier League ein Wettbieten um die Stars von morgen eingesetzt, die von den vielen internationalen Trainern dann doch auf die Bank oder Tribüne beordert werden. Und das viele Geld, das zur Entschädigung fließt, hat schon so manch einen zu früh zu bequem werden lassen.

Fabian Delph (18) von Manchester City ist solch ein abschreckendes Beispiel: vom Überflieger zur Randfigur. Und auch Nationaltrainer Gareth Southgate hatte jetzt noch etwas zu meckern: Dass die U17-Weltmeister bei der Siegerehrung am vorvergangenen Samstag ihre Trikots verkehrt herum anzogen – damit der Name und die Nummer vorne erschien – passte ihm gar nicht: „Es geht darum, gemeinsam zu gewinnen und nicht, sich selbst herauszustellen.“

Und doch profitiert der ehemalige Nationalspieler aktuell kräftig von den Reformen, die auch starke Individualisten fördern. Als Southgate seinen Kader für die Leistungsvergleiche gegen Deutschland und Brasilien (14. November) präsentierte, tauchten darin ein halbes Dutzend Kräfte auf, die 22 Jahre und jünger sind. „Wir wollen Spieler aus dem Segment U21 nicht zurückhalten – sie verdienen ihre Chance“, sagt der 47-Jährige, der vor seiner Inthronisierung selbst die U21 verantwortete. Marcus Rashford und Luke Shaw (beide Manchester United), Raheem Sterling und John Stones (beide Manchester City), James Ward-Prowse (FC Southampton) und Dele Alli (Tottenham Hotspur) heißen gleichzeitig die Hoffnungsträger für eine erfolgreiche WM 2018 im nächsten Sommer, auch wenn Alli und Sterling ebenso wie Tottenhams Topstürmer Harry Hane die Topduelle in diesem November verletzt absagen mussten.

 Tottenhams Dele Alli ist ein Ausnahmetalent. Gegen Deutschland fehlt er allerdings verletzt.

Tottenhams Dele Alli ist ein Ausnahmetalent. Gegen Deutschland fehlt er allerdings verletzt.

Foto: dpa/Mike Egerton

Löw hat die „Three Lions“ auf jeden Fall auf der Rechnung. „Frankreich, England und Italien bringen auch überragende Spieler heraus“, sagte Löw vor einigen Wochen nach den WM-Qualifikationsspiel in Nordirland. Dass das Mutterland des Fußballs in dieser Aufzählung wie selbstverständlich vorkam: Der letzte Antrieb, der finale Ansporn – er ging 2013 von Wembley aus, als manch ein BVB- und Bayern-Fan an prominenten Plätzen symbolisch einen Liegestuhl aufstellte und mit einem Handtuch seines Vereins belegte. Solche Bilder gingen damals um die Welt. Die Provokation hat London nicht vergessen.

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