Das Maß der Dinge

London. Als Novak Djokovic in diesem Frühling seine Siegesserie gerade beschleunigte, da nahm er sich in Los Angeles mal Zeit für ein ausgedehntes Foto-Shooting

London. Als Novak Djokovic in diesem Frühling seine Siegesserie gerade beschleunigte, da nahm er sich in Los Angeles mal Zeit für ein ausgedehntes Foto-Shooting. Bald darauf war der serbische Star in Hochglanzmagazinen rund um die Welt zu sehen: Als cooler Playboy in einem alten Chevy-Cabriolet, als leicht verwegener Rockertyp auf einer Harley Davidson und eben auch in gespielt arroganter Pose als römischer Feldherr, in klirrender Metallrüstung.Und so, wie er sich da der Welt präsentierte, wie eine Kampfmaschine ohne Angst und Furcht, die bereit ist, es mit ganzen Heerscharen von Gegner aufzunehmen, so erscheint er nun auch im Profizirkus der besten Tennisspieler: Djokovic, der neue Wimbledon-Sieger und neue Ranglisten-Erste, ist der fast unangreifbare Imperator der Hochgeschwindigkeitsbranche - der Mann, der dem Tourbetrieb seine spielerische Herrlichkeit aufzwingt. "Der Djoker ist der Kopf einer neuen Weltordnung", titelte der "Independent" am Tag nach Djokovic brachialem Vier-Satz-Sieg über den ratlosen Rivalen Rafael Nadal auf dem Centre Court des All England Club. Ein Tribut an Djokovics hartnäckigen Erfolgsmarsch in diesem Jahr, in der er 48 von 49 Spielen gewonnen hat.

Daheim in Serbien ist Djokovic, der Held des letztjährigen Davis Cup-Sieges gegen Frankreich, nun endgültig zum modernen Nationalheiligen aufgestiegen. "Das ist der größte Tag in der neueren serbischen Geschichte", jubilierte auf der Terrasse des Spielerzentrums am Sonntag Außenminister Vuk Jeremic, "Novak hat unserem Land ein sympathisches, erfrischendes Gesicht gegeben." Für die Wiedersehensfeier wurden Hunderttausende Menschen in Belgrad erwartet, Staatspräsident Boris Tadic, auch Augenzeuge des historischen Triumphs, kündigte eine "besondere Ehrung" an: "Wir sind einfach stolz auf diesen Mann. Er macht den Menschen in Serbien so viel Freude."

Der Tenniswelt dagegen jagt der "Djoker" Angst und Schrecken ein, seit er sich professionell organisiert hat und mit einem Spitzenteam aus Dienstleistern um die Welt jettet. Trainer, Physiotherapeut, Konditionstrainer und einen Ernährungsberater bezahlt der millionenschwere Himmelsstürmer inzwischen, der früher gern mal Fünfe gerade sein ließ und seine mangelnde Ernsthaftigkeit mit bitteren Niederlagen bezahlt bekam. Doch die letzten, alles entscheidenden Schritte konnte er nur gehen, weil er eines realisierte: Um zu den Titanen Federer und Nadal aufzuschließen, musste er selbst so ein Titan werden - ein Mann mit eiskalten Nerven, überragender Physis und Konstanz.

Nie hatte ein Spieler zu diesem Zeitpunkt der Saison nun so viele Ranglistenpunkte wie Djokovic, der ins seriöse Fach gewechselte Spaßvogel. Nadal und Federer versetzte er regelmäßige Hiebe, acht von neun Matches gewann er 2011 gegen die Granden, scheiterte nur im Pariser Halbfinale am Schweizer Maestro. "Roger und Rafa - das haben wir jahrelang gehört. Jetzt ist alles Novak, Novak, Novak", sagte Djokovics Mutter Dijana am Sonntagabend. Da klangen noch der Frust und Ärger und die Bitternis der letzten Jahre nach, eine Zeit, in der Djokovic als "dritter Mann" abgekanzelt worden war, der es niemals mit den Großmeistern würde aufnehmen können.

"Chompion" nannte die "Sun" den neuen mampfenden (chomp) Regenten Wimbledons, der nach dem Matchball ein paar Grashalme in den Mund steckte und herunterschluckte. "Ich fühlte mich wie ein Tier dabei", sagte Djokovic. Irgendwie kam einem da der Spruch eines Mannes in den Sinn, der als 17-jähriger einst Wimbledon in seinen Bann gezogen hatte - der Spruch Boris Beckers, der gesagt hatte, man müsse "notfalls Gras fressen, um Wimbledon zu gewinnen".

Im übertragenen Sinne traf das zweieinhalb Jahrzehnte später auch auf Djokovic zu: Zwei unglaubliche Athleten hatte er vor sich, Federer und Nadal, doch in seiner Hartnäckigkeit ließ er sich nie bremsen. "Ich bin oft hingefallen, aber stärker aufgestanden", sagte Djokovic, als seine Mission vollendet war, mit einem fabelhaften Doppelschlag binnen 48 Stunden, dem Sprung auf den Ranglisten-und den Wimbledon-Gipfel. Die Warnung an den Rest der Welt folgte umgehend, die Warnung, dass er, der Imperator, nun erst recht Lust an der Macht bekommen hat: "Ich bin dafür geboren, weitere Titel zu gewinnen." Beim abendlichen Talk in der BBC-Kultsendung "Today at Wimbledon" nahm Becker, der deutsche Star der Vergangenheit, diesen Ton auf: "Der 3. Juli 2011 ist eine Zäsur im Tennis. Djokovic ist jetzt das Maß der Dinge." "Roger und Rafa - das haben wir jahrelang gehört. Jetzt ist alles Novak, Novak, Novak."

Novak Djokovics

Mutter Dijana

Auf Einen Blick

Die neuen Tennis-Weltranglisten:

Männer: 1. (2) Novak Djokovic (Serbien) 13285 Pkt.; 2. (1) Rafael Nadal (Spanien) 11270; 3. (3) Roger Federer (Schweiz) 9230; 4. (4) Andy Murray (Großbrit.) 6855; 5. (5) Robin Söderling (Schweden) 4325; ... 20. (18) Florian Mayer (Bayreuth) 1555; 42. (39) Philipp Kohlschreiber (Augsburg) 1080.

Frauen: 1. (1) Caroline Wozniacki (Dänemark) 9915 Pkt.; 2. (2) Kim Clijsters (Belgien) 7625; 3. (3) Vera Swonarewa (Russland) 6695; 4. (5) Victoria Asarenka (Weißrussland) 6465; 5. (6) Maria Scharapowa (Russland) 6141; …7. (8) Petra Kvitova (Tschechien) 5437; ... 11. (13) Andrea Petkovic (Darmstadt) 3305; 16. (16) Julia Görges (Bad Oldesloe) 2715; 27. (62) Sabine Lisicki (Berlin) 1886; 87. (75) Kristina Barrois (Urexweiler) 761. dpa

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