Dabei hatte sie schon aufgehört

Peking · Anfang 2014 hing Cindy Roleder ihre Hürden-Spikes an den Nagel und widmete sich dem Siebenkampf. Seit Freitag ist sie Vize-Weltmeisterin – über die 100 Meter Hürden. „Das ist ein Traum“, sagte die Leipzigerin.

Gebannt schaute Cindy Roleder hoch zur Anzeigentafel. Die Sekunden wurden unerträglich lang, Roleder immer ungeduldiger. Doch dann die Erlösung. Silber . 12,59 Sekunden. Roleder konnte es nicht fassen, schlug die Hände vor ihr Gesicht, schüttelte immer wieder mit dem Kopf. Der Rest war grenzenloser Jubel. "Ich kann es gar nicht fassen. Das war das Rennen meines Lebens", sagte Roleder nach ihrem sensationellen Hürden-Coup bei der Leichtathletik-WM in Peking : "Ich hätte niemals gedacht, dass ich eine Medaille gewinne. Das ist ein Traum."

Die Leipzigerin pulverisierte ihre Bestleistung im alles entscheidenden Moment und musste sich am Ende nur der neuen Weltmeisterin Danielle Williams aus Jamaika (12,57) geschlagen geben. Bronze holte die Weißrussin Alina Talaj (12,66). Erst sieben Deutsche sind je schneller durch den Hürdenwald gerannt als Roleder. Sie gewann damit die sechste Medaille für das deutsche Team in Peking - und das völlig unerwartet. Roleder war noch gar nicht geboren, als die DDR-Sprinterinnen Gloria Uibel (Silber ) und Cornelia Oschkenat (Bronze) 1987 die bisher letzten deutschen Hürden-WM-Medaillen gewonnen hatten.

Mit der Deutschland-Fahne um die Schultern gewickelt, ließ sich Roleder von den Fans im "Vogelnest" gebührend feiern. Dass eine Medaille zum Greifen nahe ist, hatte die Polizeimeisterin bereits im Halbfinale gezeigt. Schon da lief die Blondine in 12,79 Sekunden Bestleistung - und die Mitfavoritinnen verabschiedeten sich reihenweise. Peking-Olympiasiegerin Dawn Harper-Nelson aus den USA stürzte, ihre Landsfrau Kendra Harrison, viertschnellste in diesem Jahr, verpasste nach einem Fehlstart ebenfalls das Finale.

Und so nutzte Roleder die Chance ihres Lebens. "Ich wusste, dass ich weit vorne war, und dann kann man einfach nur hoffen", sagte Roleder über das bange Warten, bis endlich ihre Platzierung auf der riesigen Leinwand erschien: "Als Platz zwei da stand, ist mir kurz das Herz stehengeblieben."

Dabei hatte Roleder Anfang 2014 ihre Hürden-Spikes schon an den Nagel gehängt. Nach einigen Dämpfern wollte sie sich ganz auf den Siebenkampf konzentrieren, doch von ihrer alten Liebe konnte sie dann doch nicht lassen. Bei der EM in Zürich war sie dann auch über die Hürden am Start und holte Bronze, jetzt folgte der sensationelle Hürden-Coup. "Ich mache genau so weiter", sagte Roleder mit Blick auf Olympia in Rio: "Ich werde weiter Siebenkampf trainieren. Dann schaue ich mir weiter die Hürden an."

Das deutsche Zehnkampf-Trio peilt derweil Bronze an. Direkt hinter dem überragenden Ashton Eaton (USA) und dem Kanadier Damian Warner liegen Rico Freimuth, Kai Kazmirek und Michael Schrader in Lauerstellung. "Das war ein super geiler Tag", sagte Freimuth, der zur Halbzeit die besten Chancen auf das Podest hat und mit 4406 Punkten auf Rang drei liegt. Nur fünf Zähler weniger sammelte bisher Kazmirek, Schrader hat etwas Rückstand (4355). Der 28 Jahre alte Vizeweltmeister kann mit seinem starken zweiten Tag aber noch nach vorne kommen.

Titelverteidiger Eaton lässt bisher keine Zweifel aufkommen, dass er erneut ganz oben stehen will. Der 27 Jahre alte Weltrekordhalter führt das Feld souverän an (4703) und glänzte zum Abschluss des ersten Tages mit 45,00 Sekunden über die 400 Meter. Nie zuvor war ein Zehnkämpfer so schnell die Stadionrunde gerannt. "Kann ich die Uhr nochmal sehen? Ich glaube das gar nicht", sagte Eaton nach dem Fabellauf. Der Samstag wird brutal für Robert Harting . Am liebsten würde sich der Diskus-Olympiasieger verkriechen, wenn sein kleiner Bruder Christoph bei der WM in Peking in den Ring steigt und nach einer Medaille greift. Werfen gegen die Besten ja, aber zuschauen? Da spielen die Nerven beim "Herrn des Rings" einfach nicht mit. "Ich fühle mich eklig in solchen Situationen", sagte der große Harting: "Wahrscheinlich werde ich still und heimlich in einem dunklen Zimmer vor meinem Handy sitzen, wo mich niemand sieht."

Auch wenn Robert seinem Bruder natürlich alle Daumen drückt, glaubt er nicht daran, dass der WM-Titel in der Familie weitergereicht wird. Der Kampf um Gold werde zum Nervenkrieg. "Es wird ein taktisches Spiel: Wer wirft wann wie weit? Und nicht: Wer wirft am weitesten. Das ist bei einer WM ganz entscheidend", sagte Robert Harting . Daher sei "Christoph eigentlich noch nicht in der Lage, Weltmeister zu werden", so Harting weiter: "Das meine ich nicht böse. Es ist nicht seine Aufgabe, mich zu vertreten, aber er kann den einen oder anderen ärgern." Robert Harting , der nach seinem Kreuzbandriss 2014 auf einen Start verzichtet hat, setzt daher auf seinen großen polnischen Rivalen der vergangenen Jahre: "Ich tippe auf Piotr Malachowski, weil er einfach die größte Routine, die größte Leistungsfähigkeit und den größten Tagesinstinkt mitbringt."

Nichtsdestotrotz glaubt Christoph Harting an seine Chance. "Es gibt keinen richtigen Favoriten", sagte er vor dem Finale (13.50 Uhr/ARD ), "ich weiß, was ich kann, und das versuche ich umzusetzen." Mit einer Weite von 67,93 Metern ist er als Nummer drei der Welt nach China gereist. Und fast wäre Konkurrent Malachowski gar nicht ins Finale gekommen, doch mit 65,59 Metern im letzten Versuch bewies der Jahresbeste in der Qualifikation Nervenstärke. Dem 32-Jährigen war bei der EM 2010 in Barcelona als bisher Letztem das Kunststück gelungen, Robert Harting bei einer Meisterschaft den Titel wegzuschnappen.

Im Gegensatz zu Malachowski und Peking-Olympiasieger Gerd Kanter (64,78/Estland) sind einige Mitfavoriten wie Jason Morgan (Jamaika), die Nummer zwei der Welt in diesem Jahr, oder der Olympiazweite Ehsan Hadadi (Iran) nicht im Finale. Auch Martin Wierig (Magdeburg) und Daniel Jasinski (Wattenscheid) scheiterten in der Qualifikation. Nach ihrem Traumlauf in die Geschichtsbücher schlug Dafne Schippers die Hände vor das Gesicht und sank zu Boden: Die niederländische Sprint-Sensation ist bei der WM in Peking in beängstigender Manier zum 200-Meter-Gold gestürmt und im viertschnellsten Rennen der Geschichte mit 21,63 Sekunden so schnell wie keine Europäerin vor ihr gelaufen. Nur die längst verstorbene Weltrekordlerin Florence Griffith-Joyner (21,34 und 21,56) und Doperin Marion Jones (21,62/beide USA) waren jemals schneller.

Die 23 Jahre alte Schippers, die bereits Silber über 100 Meter gewonnen hatte, unterbot den mit 21,71 Sekunden gemeinsam von Marita Koch (1979/1984) und Heike Drechsler (1986) gehaltenen Uralt-Europarekord um acht Hundertstel. Mit ihrem gnadenlosen Finish fing die Blondine aus Utrecht auf der Zielgeraden die Jamaikanerin Elaine Thompson (21,66) ab. Platz drei ging durch Veronica Campbell-Brown (21,97) ebenfalls an Jamaika.

Schippers' Entwicklung ist außergewöhnlich. Als Siebenkämpferin holte bei der WM 2013 mit nur 21 Jahren bereits Bronze. 2014 wagte sie sich an den Spezialsprint und wurde in Zürich über beide Strecken Europameisterin. In Peking folgte nun der ganz große Coup.

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Am RandeDer russischer Geher Alexander Jargunkin ist vor der Leichtathletik-WM in Peking positiv auf das Blutdopingmittel EPO getestet worden. Dies berichtete die russische Nachrichtenagentur Tass am Freitag. Der 34-jährige zweifache Landesmeister war für das 50-Kilometer-Rennen bei der WM am Samstag als einziger russischer Geher gemeldet. Alle anderen Mitglieder des Geher-Teams aus Russland waren bereits zuvor wegen diverser Doping-Vergehen vom eigenen Verband von allen internationalen Wettkämpfen zurückgezogen worden. "Der Athlet ist vorläufig von Wettbewerben suspendiert", sagte Nikita Kamajew, Generaldirektor der russischen Anti-Doping-Agentur (RUSADA). Jagudins-Trainer Konstantin Golubtsow war überrascht von der Nachricht: "Ich kann überhaupt nicht verstehen, wie das passieren konnte." dpa

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