Aus der Lebenskrise auf den WM-Thron

London · Gary Anderson reagierte nach dem erneuten Gewinn bei der Darts-Weltmeisterschaft verhalten. Hinter dem Schotten lag nicht nur ein schweres Match gegen Adrian Lewis, sondern auch eine schwere Zeit.

 Gary Anderson küsst den 20 Kilo schweren Pott – wieder einmal. Der Schotte verteidigte am späten Sonntagabend seinen WM-Titel im Darts. Fotos: Dempsey/dpa

Gary Anderson küsst den 20 Kilo schweren Pott – wieder einmal. Der Schotte verteidigte am späten Sonntagabend seinen WM-Titel im Darts. Fotos: Dempsey/dpa

 Adrian Lewis musste sich im Finale geschlagen geben.

Adrian Lewis musste sich im Finale geschlagen geben.

Glitzernder Konfettiregen, eine grölende Party-Meute - der Rahmen für die feuchtfröhliche Feier zu Ehren des Darts-Weltmeisters passte, doch für die großen Emotionen war Gary Anderson nicht bereit.

Nach seiner Titelverteidigung blieb der "Flying Scotsman" seltsam reserviert, lächelte verlegen der brodelnden Menge im Alexandra Palace zu und winkte dann sogar ab. Zum einen stellte ihn seine konfuse Leistung am Abend vor ein Rätsel. Womöglich ließ er aber auch seine vergangenen Lebensjahre Revue passieren - und die geben eher Anlass zu einer stillen Freude.

Noch vor zwei Jahren deutete nichts auf seinen Triumphzug hin, die Karriere des Gary Anderson lag in Trümmern. Im Herbst 2011 war sein Bruder im Alter von 35 Jahren an einem Herzinfarkt gestorben, nur wenige Monate später verstarb sein Vater. In die Lebenskrise des früheren Bauarbeiters fiel die Trennung von Ehefrau Rosemary, mit der er zwei Söhne hat. Hinzu kamen Zahnschmerzen und Augenprobleme, die dem Präzisionsschützen besondere Probleme bereiteten.

Naturtalent Anderson, der bereits mit seinen ersten ernsthaften Würfen auf die Dartscheibe im hohen Alter von 25 Jahren bemerkenswerte Punktzahlen erzielt haben soll, hatte keine Lust mehr auf Darts. In den Ranglisten wurde er durchgereicht: "Die Leute haben über meine Würfe geredet, und mir war das alles völlig egal."

Doch mit seiner neuen Partnerin Rachel und der Geburt seines dritten Sohnes Tai im April 2014 kehrte die Motivation zurück. Anderson ließ sich seinen Namen auf die Wurfhand tätowieren, und die Darts fanden wieder ihr Ziel. Beim 5:1-Viertelfinalsieg gegen James Wade verfolgte Tai die Galavorstellung seines Vaters im Alexandra Palace in London erstmals im Publikum.

Beim 7:5-Erfolg im Finale gegen den Engländer Adrian Lewis, das dem TV-Sender Sport1 eine Topquote von in der Spitze 1,97 Millionen Zuschauern einbrachte, war zunächst wenig vom Glanz der zuvor gespielten Runden übrig geblieben. "Wir haben gedacht, wir würden einen 42-er Durchschnitt spielen", sagte Anderson mit Blick auf die gefühlt indiskutable Ausbeute, die tatsächlich bei immerhin 99,3 lag - sein schwächster Schnitt im gesamten Turnierverlauf.

Vom ersten Wurf an wirkte der Schotte genau fünf Jahre nach der ersten Auflage des Endspiels von 2011 übernervös. Er verfehlte Felder, die er in den vergangenen Tagen spielend leicht getroffen hatte, er leistete sich zwei grobe Rechenfehler und spielte auf komplett falsche Zahlen. Weit und breit keine Spur von einem Neun-Darter, den er im Halbfinale beim beeinduckenden 6:0 gegen Jelle Klaasen geworfen hatte.

Auf der anderen Seite gelang Anderson im zwölften Satz das höchstmögliche Finish, die 170, in drei Würfen und zog damit seinem hartnäckigen Konkurrenten Lewis endgültig den Zahn. "Es fühlt sich großartig an, wieder Weltmeister zu sein, und ich habe es vielleicht mit 85 Prozent meiner Leistungsfähigkeit geschafft", sagt Anderson, der für den Sieg bei der bisher größten und besten WM im Darts den Rekordjackpot von 400 000 Euro erhält.

Anderson fürchtet zwar die neue Generation, die ihm das Leben schwer machen wird. Aber auch der Darts-Nachwuchs im Hause Anderson lässt nicht mehr so lange auf sich warten. Seit seinem 13. Lebensmonat hat auch Söhnchen Tai schon die Pfeile in der Hand und ist großer Fan - vom Weltranglistenersten Michael van Gerwen. "Ich weiß auch nicht, was da schief gelaufen ist", sagt Anderson: "Aber irgendwann wird er alt genug sein, um zu verstehen, warum man Gary-Anderson-Fan sein muss."

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