Adeus, jogo bonito

Teresópolis · Nach dem Ausfall von Neymar steht der bisher unglückliche Fred noch mehr unter Druck. Die Kritik an dem Angreifer ist gewaltig. Aber Trainer Luiz Felipe Scolari zählt auf den 30-Jährigen – auch gegen Deutschland.

Ausgerechnet im ästhetisch schönsten Moment des Spiels zeigte David Luiz seine hässlichste Fratze. Nach seinem Kunst-Freistoß mit der Innenseite des rechten Fußes zappelte der Ball noch im kolumbianischen Tor, da stürmte Brasiliens Innenverteidiger mit weit aufgerissenen Augen und Mund, bis zum Anschlag gespannten Muskeln und Sehnen am Hals sowie wild wehendem Haar wie von Sinnen Richtung Eckfahne.

Kein Jubel-Tänzchen, kein Samba-Hüftschwung, David Luiz trat die Stange im Sprung einfach um. Pure Aggressivität, die sich am Freitag beim 2:1-Triumph im WM-Viertelfinal gegen Kolumbien durch das ganze Spiel der Brasilianer zog. Und auf die sich die deutsche Mannschaft beim heutigen Halbfinale (22 Uhr/ZDF ) in Belo Horizonte einstellen kann.

Mit 31 geahndeten Fouls und zahllosen vom spanischen Schiedsrichter Carlos Velasco Carballo übersehenen Nickeligkeiten trug die Seleção ihr einst weltweit bewundertes "jogo bonito" zumindest bei dieser WM zu Grabe. Statt Kurzpassspiel und Dribblings, die Gegner und Fans gleichermaßen staunen lassen, rempeln, rumpeln und foulen sich die gelb gekleideten "Canarinhos" (Kanarienvögel) durch das Turnier. "Die Brasilianer sind hier nicht die Zauberer, die Mannschaft hat sich verändert, sie spielt anders als früher", sagt Bastian Schweinsteiger .

Während auf den Rängen des Stadions in Fortaleza jeder weggedroschene Ball, jede Grätsche, jeder Befreiungsschlag frenetisch bejubelt wurde, wendete sich die Fußballwelt ab. "Das ist die vielleicht schlimmste brasilianische Mannschaft seit 30 Jahren. Es macht keinen Spaß, zuzusehen. Die spielen nur defensiv", meint der Franzose Willy Sagnol, einst Verteidiger bei Bayern München.

Auch den Engländern, nicht gerade für ihre subtile Art des Fußballs bekannt, geht die Abkehr der Brasilianer vom kunstvoll zelebrierten Fußball zu weit. "Sie haben ja keinen einzigen Ball durchgelassen. Sobald nur ein bisschen Gefahr aufkam, wurde der Spielfluss durch ein Foul gestoppt", moniert Chris Waddle, Ex-Nationalspieler der Three Lions.

Wer im WM-Camp der Brasilianer in Teresópolis den Anweisungen von Luiz Felipe Scolari bei den Trainingsspielchen lauscht, weiß, was der Weltmeister-Trainer von 2002 von seinen Jungs sehen will. "Macht den Angriff zunichte. Es ist nicht hässlich, ein Foul zu begehen", schallt es bis hinauf auf die Pressetribüne. Eine Taktik, die schon beim Confed-Cup-Triumph 2013 aufging.

Damals reklamierte Spaniens Coach Vicente del Bosque nach dem 0:3 im Finale: "Brasilien hat eine Reihe nicht bösartiger Fouls begangen. Das war eine Strategie, die sich durch das ganze Spiel zog. Damit kam kein Spielfluss auf." Kolumbiens WM-Star James Rodriguez, am Freitag einer der Gejagten auf dem Feld, dürfte ähnlich gedacht haben. Und Schweinsteiger stellt fest: "Ich bin für gesunde Härte. Das eine oder andere Foul war darüber hinaus."

Bei der WM-Generalprobe 2013 foulten die Brasilianer in fünf Spielen 107 Mal (Schnitt: 21,4 Fouls/Spiel). Diesmal stehen zwar erst 96 Fouls ebenfalls nach einer Handvoll Partien zu Buche. Aber mit klarer Steigerung. Gegen Kroatien wurden fünf Aktionen vom Schiedsrichter abgepfiffen, gegen Mexiko 13, gegen Kamerun 19, gegen Chile inklusive Verlängerung 28, macht im Schnitt 16,25 pro Spiel. Und jetzt gegen Kolumbien satte 31 Fouls.

Die robuste Gangart hat auch ihre Konsequenzen. Mit zehn Gelben Karten führen die Brasilianer auch diese WM-Statistik an. Kapitän Thiago Silva, der den Sieg gegen Kolumbien mit seinem Tor eingeleitet hatte, ist gegen die Deutschen gesperrt.

Bittere Ironie, dass der fünfmalige Weltmeister sein einziges Versprechen auf ein "jogo bonito" nun selber durch ein brutales Foul verlor. Mit dem Ausfall des an der Wirbelsäule verletzten Superstars Neymar verabschiedete sich die letzte Kreativität. Adeus, jogo bonito!

saarbruecker-zeitung.de/

wm2014

Fred lächelt. Trotz all der Demütigungen, der heftigen Kritik, trotz des Schocks nach dem WM-Aus seines Kumpels Neymar. Fred grinst erstaunlich viel in diesen hektischen Tagen vor dem heutigen Halbfinalkracher gegen Deutschland (22 Uhr/ZDF ) und streicht sich über seinen Dreitage-Bart. Seine Mission soll noch lange nicht vorbei sein - Fred geht voran. Dabei ist der Druck auf den Angreifer enorm. "Neymar war und ist die Seele unseres Teams", sagt Fred: "Wir werden unser Leben geben, um für ihn den Titel zu gewinnen."

Doch wer soll jetzt die Tore schießen? Etwa Fred?, fragen sich Fans und Experten. Der 30-Jährige ackert und rennt zwar bis zur Erschöpfung. Doch seinen eigentlichen Job hat der wuchtige Angreifer bisher sträflich vernachlässigt - auf einen mickrigen Treffer kommt die Nummer 9 bisher. Er bereitete noch kein Tor vor, verstolperte dafür aber jede Menge Bälle.

Die Kritik an dem Mann von Fluminense ist riesig. Fred sei hölzern, schwerfällig und so treffsicher wie die ungeschickte Comic-Figur Fred Feuerstein, heißt es in den Fanforen. Auch Experten halten Frederico Chaves Guedes für den Schwachpunkt im Team von Luiz Felipe Scolari. "Brasilien spielt eigentlich nur zu zehnt", sagt Englands früherer Top-Stürmer Alan Shearer. ARD-Experte Mehmet Scholl meinte zuletzt, bei Brasilien sei "alles in Bewegung. Nur Fred, der geht." Und der große Pelé hält den unglücklichen Fred ohnehin für eine Fehlbesetzung: "Zum ersten Mal in der Geschichte unseres Fußballs ist die Abwehr gut organisiert, aber der Sturm hat einige Schwierigkeiten."

Doch das interessiert Scolari alles nicht. Der 65-Jährige ist ein Sturkopf und steht loyal zu seinem Angreifer. Scolari baut auf Fred, seitdem er Brasilien mit fünf Treffern im vergangenen Sommer zum Sieg beim Confed Cup geschossen hatte. Damit Fred wieder zu seiner alten Form findet, gibt es von Scolari Streicheleinheiten: Er nimmt ihn oft in den Arm, tätschelt seine Wange, bezeichnet ihn sogar als "unentbehrlich".

Zuletzt ließ sich Fred einen Schnauzbart wachsen, Neymar hatte ihm dazu geraten - dann würden die Tore schon von alleine fallen. Im ersten Spiel mit dem Moustache gegen Kamerun (4:1) traf der Angreifer auch noch und verkündete hinterher: "Mein Schnäuzer bleibt jetzt bis zum Finale." Doch richtig Glück brachte der Schnäuzer danach nicht mehr, jetzt ist eher Wildwuchs angesagt.

So oder so: Fred muss jetzt liefern. Immerhin: Gegen Mats Hummels und Co. spielt Fred in seinem "Wohnzimmer" Estadio Mineirão von Belo Horizonte . 49 Spiele hat er als Profi dort bestritten und 42 Tore geschossen. Er kenne da ein paar "Abkürzungen auf dem Platz", scherzt Fred: "Ich spüre eine andere Energie, wenn ich im Mineirão spiele." Ein Neymar werde aus ihm aber sicher nicht mehr: "Es wäre ein Traum, ein Tor zu machen, nachdem ich fünf Gegner ausgespielt habe. Aber das vergesse ich besser. Das ist unmöglich." Willian: Der trickreiche Flügelspieler des englischen Topclubs FC Chelsea kann auch im offensiven Mittelfeld spielen. Bei seinen bisherigen drei Kurzeinsätzen (39 Minuten) ging aber kaum Gefahr vom Lockenkopf aus. Gegen Willian spricht dessen Fehlschuss im Achtelfinal-Elfmeterschießen gegen Chile .

Bernard: Der 1,66 Meter kleine Dribbelkünstler kann mit seiner überragenden Technik ein Spiel allein entscheiden, körperlich hat er jedoch deutliche Defizite. Das könnte gegen die robusten deutschen Defensivspieler schwer werden. Außerdem kam der Ukraine-Legionär von Schachtjor Donezk bislang nur auf 66 WM-Minuten.

Luiz Gustavo: Dass der Bundesliga-Profi des VfL Wolfsburg nach abgesessener Gelbsperre gegen Deutschland zurück in die Startelf kehrt, scheint sicher. Da aber in seiner Abwesenheit Fernandinho und Paulinho ihre Aufgaben gegen Kolumbien mit Superstar James Rodríguez souverän gelöst haben, könnte sich Scolari auch für ein defensives Dreier-Mittelfeld entscheiden. Dann würden die offensiven Hulk und Oscar als Außenstürmer auflaufen, um die zentrale Spitze Fred zu unterstützen.

Ramires: Den körperlich robusten und dynamischen Profi des FC Chelsea könnte Scolari auf einer der Außenpositionen bringen. Oscar würde dann die Neymar-Position als hängende Spitze übernehmen. Ramires hat immerhin in allen bisherigen fünf WM-Partien gespielt (130 Minuten), Bäume ausgerissen hat er aber nicht.

Jô: Der 1,91 Meter große Angreifer wäre die offensive Lösung. Scolari hält viel vom eleganten und gleichzeitig robusten Spieler, an dem auch Borussia Dortmund Interesse zeigen soll. Der 27-Jährige könnte Stürmer Fred in der Spitze entlasten und die weiten Wege gehen.

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