Olympia 2021: Der große SZ-Jahresrückblick Skandale, Entgleisungen und ein wenig Normalität: Die Olympischen Geisterspiele von Tokio (mit Bildergalerie)

Special | Tokio · Zehn Goldmedaillen, aber auch viele Enttäuschungen: Die Olympischen Spiele in Tokio waren dieses Jahr nicht sehr erfolgreich für die deutschen Sportler. Ein Rückblick auf außergewöhnliche Spiele – die auch einige Skandale boten.

Die wichtigsten Bilder: Das waren die Olympischen Spiele 2021
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Das waren die Olympischen Spiele 2021

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Foto: dpa/Michael Kappeler

Sie waren bizarr. Seltsam. Sie waren aus deutscher Sicht nicht sehr erfolgreich. Aber sie waren auch schön, nicht zuletzt, weil sie zumindest etwas Normalität bedeuteten, indem sie einfach nur stattfinden konnten. Die von 2020 ins Jahr 2021 verlegten Olympischen Sommerspiele von Tokio wurden aber natürlich wie alles auf der Welt maßgeblich von der Pandemie geprägt.

Zuerst gab es eine Kontroverse darum, ob sie überhaupt stattfinden dürften. Selbst im sonst so protest-armen Japan gab es Anti-Olympia-Demos. Dann verschärfte sich die Lage vor Ort, statt weniger durften gar keine Zuschauer in die Stadien, Hallen und an die Strecken. Es wurden Geisterspiele. Corona-Spiele. Am Ende konnten immerhin alle Wettbewerbe durchgeführt werden, der Rubel konnte rollen. Im weltweiten Sportsystem partizipieren die Nationalen Olympischen Komitees von den Einnahmen des Internationalen Olympischen Komitees. Und das IOC ist auf Sponsoren- und TV-Einnahmen angewiesen, um Geld weiter nach unten zu verteilen.

Der deutsche IOC-Präsident Thomas Bach, der in diesem Jahr wiedergewählt wurde, stand natürlich trotz der ganzen Fährnisse hinter seinem „Produkt“. Man habe das Olympische Gefühl „fühlen, hören und sehen“ können, sagte der „Herr der Ringe“ und sprach von einem großen Erfolg für Japan, das IOC und die ganze Sportwelt. Die Spiele hätten „zum richtigen Zeitpunkt stattgefunden“ und der ganzen Welt „Hoffnung und Vertrauen“ geschenkt.

Aber auch, wenn Funktionäre und Sportler aufgeatmet haben: Leere Tribünen wirken nicht sexy. Sportler, die sich kaum umarmen dürfen, bedeuten nur schwerlich ein Sportfest mit Wärme. Das zeigte sich auch in den Einschaltquoten in den USA, die bis zu 50 Prozent unter denen von Olympia 2016 in Rio de Janeiro blieben. Immerhin: In Deutschland blieben die TV-Quoten halbwegs stabil.

Im Mittelpunkt der Kameras zu stehen ist aber nicht für alle Athleten toll. So zog Turn-Megastar Simone Biles (USA) bei Olympia aus mentalen Gründen zurück. Statt wie erwartet mehrere Goldmedaillen abzuräumen, kehrte sie nur für das Finale am Schwebebalken zurück und gewann dort Bronze. Sie zeigte Schwäche – und war damit stark. Weltweit bekam Biles Anerkennung, Respekt und Unterstützung. Viel Lob gab es auch für die beiden Hochspringer Gianmarco Tamberi (Italien) und Essa Mutaz Barshim (Katar). Sie hatten beide gleich viele Versuche nach übersprungenen 2,37 Metern und dreifach missglückten Sprüngen über 2,39 Meter. Ein Offizieller des IOC fragte beide, ob sie die Regeln kennen, dass ein Stechen mit einem letzten Sprung den Olympiasieger küren könne. Auf die Frage von Barshim, ob die guten Freunde beide mit der Goldmedaille ausgezeichnet werden können, bestätigte dies der Kampfrichter. Der Wettkampf endete mit zwei Olympiasiegern. Beide sprangen sich überglücklich in die Arme.

Radprofi Simon Geschke in Quarantäne

Eine Geschichte, die Wärme verbreitet. Zum Bibbern war da eher Simon Geschke zumute. Der deutsche Radprofi musste nach einem positiven Corona-Test die kahlen Wände seines engen Quarantäne-Zimmers anstarren, klagte über die schlechte Verpflegung. Er sprach von der nutzlosesten Dienstreise seiner Karriere. „Das ist langsam wie Knast hier“, sagte Geschke. „Beim Frühstück gab es eine Grapefruit, aber wir kriegen keine Messer. Ich habe keine Lust mehr auf diesen Kindergarten. Man sitzt dann da mit einer Nagelfeile da und fragt sich, wie man in diese Situation geraten ist.“ So waren es durch Corona auch einsame Spiele für viele Sportler.

Bewegend war für die Weltöffentlichkeit auch der „Fall“ Kristina Timanowskaja. Die belarussische Sprinterin hatte die kurzfristige Besetzung der 4×400-Meter-Staffel öffentlich kritisiert. Danach wurde sie gegen ihren Willen von den Funktionären ihrer Delegation zum Flughafen gebracht, wo sie ein Flugzeug nach Istanbul zum Weiterflug nach Minsk besteigen sollte. Freiwillige und Beamte der japanischen Polizei verhinderten dies. Ein echter Polit-Krimi mit dem Regime von Machthaber Alexander Lukaschenko im Mittelpunkt. Mehrere Länder boten ihr Asyl an, am Ende flog sie über Umwege nach Polen.

Sportlich waren die Spiele für den Deutschen Olympischen Sportbund um Präsident Alfons Hörmann, der zum Jahresende von Thomas Weikert abgelöst wurde, eher mäßig. 37 Medaillen, davon zehn goldene, bedeuteten das schwächste Ergebnis seit der Wiedervereinigung. Platz neun im Medaillenspiegel hinter den Niederlanden, die weniger als ein Viertel der deutschen Einwohnerzahl haben, hieß: Deutschland ist nur noch olympisches Mittelmaß. Wohlgemerkt: Das ist kein Ausrutscher, sondern ein fortlaufender Trend. 2016 in Rio waren es noch 17 Goldmedaillen. Mittlerweile klafft auch zu Japanern, Briten und Australiern eine gewaltige Lücke.

Düster sah es in den Mannschaftssportarten aus, erstmals seit Atlanta 1996 gab es gar keine Medaille, nicht mal die sonst so zuverlässigen Hockey-Teams lieferten. Danach forderten Kritiker einen radikalen Wandel im deutschen Spitzensport. Rufe nach Reformen und Bürokratie-Abbau, mehr Professionalisierung, Zentralisierung und der Hilfe diverser Fachleute wurden laut.

Tennis-Star Alexander Zverev freut sich über Gold

Keine Professionalisierung braucht Alexander Zverev. Der ließ sich von Olympia mitreißen und freute sich über die erste Goldmedaille für einen deutschen Tennisspieler wie ein Kind. Auch die vom Saarländer Uli Knapp trainierte Weitspringerin Malaika Mihambo erfüllte ihre Favoritenrolle und holte mit dem letzten Sprung und genau 7,00 Metern Gold. Kanu- und Kajakfahrer, der von Corona-Nachwirkungen geplagte Ringer Jürgen Stäbler mit Bronze sowie die goldenen Dressurreiterinnen um Doppel-Olympiasiegerin Jessica von Bredow-Werndl und die unverwüstliche Isabel Werth: Es gab sie, die positiven Geschichten. Und auch Saarländer wie Lisa Klein mit Gold im Bahnrad-Vierer und Patrick Franziska mit Mannschafts-Silber im Tischtennis schrieben mit. Wie auch Freiwasser-Olympiasieger Florian Wellbrock, der 33 Jahre nach Michael Groß wieder Schwimm-Gold holte.

Auf der anderen Seite hagelte es aber gefühlt sogar etwas mehr Enttäischungen. Da dominierte der frühere Saarbrücker Johannes Vetter die Monate vor Olympia jeden Wettbewerb, warf in anderen Sphären – um bei Olympia mit dem Anlauf nicht klarzukommen, auszurutschen und nur Neunter zu werden. Auch Ruderer Oliver Zeidler versagte als Topfavorit, verpasste das Finale. Die Schützen enttäuschten, die Handballer schieden im Viertelfinale gegen Ägypten aus, die Fußballer um Trainer Stefan Kuntz aus Neunkirchen schieden auch deswegen früh aus, weil manche Clubs sich weigerten, Spieler abzustellen.

Besonders unrühmlich: Radsport-Trainer Patrick Moster musste nach einer rassistischen Entgleisung („Hol die Kameltreiber“) vorzeitig abreisen. Und Bundestrainer Kim Raisners Rufe („Hau richtig drauf“) an die überforderte und verzweifelte Fünfkämpferin Annika Schleu, deren zugelostes Pferd kaum in die Spur zu bekommen war, führten sogar dazu, dass das Reiten künftig nicht mehr zum Modernen Fünfkampf gehören soll. Für den Sport und die Tiere eine Verbesserung.

Und so endeten diese Spiele von Tokio mit vielen Hoffnungen auf Besserung – insbesondere in Sachen Corona. Wie die Bedingungen diesbezüglich aber 2024 in Paris aussehen könnten – dafür bräuchte es eine Glaskugel.

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