Leichtathletik „Gina aus Westfalen“ kennt kein Tempolimit

Soest · Sprintstar Lückenkemper bereitet sich auf die deutschen Meisterschaften vor. Ein Leben zwischen Tartanbahn und Pferdestall.

 Sprinterin Gina Lückenkemper, das strahlende Gesicht der deutschen Leichtathletik, macht eine kurze Trainingspause vor den deutschen Meisterschaften am Wochenende im Berliner Olympiastadion.

Sprinterin Gina Lückenkemper, das strahlende Gesicht der deutschen Leichtathletik, macht eine kurze Trainingspause vor den deutschen Meisterschaften am Wochenende im Berliner Olympiastadion.

Foto: dpa/Swen Pförtner

Soest ist nicht weit weg vom geografischen Mittelpunkt Westfalens, aber irgendwie am Ende der Welt. Die Autofahrt auf der A46, A1 und A44 durch den Ruhrpott an Essen und Dortmund vorbei scheint kein Ende zu nehmen. „Tief im Westen ist eigentlich hier“, wird später Gina Lückenkemper sagen. Deutschlands schnellste Frau ist im nahen Hamm geboren, in der 47 500-Einwohner-Stadt Soest aufgewachsen und mit der Region verwachsen.

Bisher hat die 22 Jahre alte Sprinterin, die in den Metropolen der Welt mit schnellen Schritten Karriere macht, nicht den Drang, der westfälischen Idylle und Geborgenheit den Rücken zu kehren. Mit steigender Popularität ist Soest ein Rückzugsort geworden, in dem sie ihre Ruhe hat und in Ruhe gelassen wird.

Es ist ein kühler, wolkenverhangener Morgen in der Vorbereitung auf die deutschen Meisterschaften am Wochenende in Berlin. Genau das Gegenteil von dem Wetter, das Sprinter mögen. Gina Lückenkemper, dem meistens lächelnden und lachenden „Gesicht der deutschen Leichtathletik“, verdirbt diese Tristesse die gute Laune nicht. Bepackt mit Sporttasche, Startblock und einer Art Campingstuhl geht sie zur Tartanbahn des Leichtathletik-Zentrums in Soest, um zu trainieren. Nur wenige hundert Meter entfernt hat sie im Conrad-von-Soest-Gymnasium ihr Abitur gemacht.

Ihr Coach Uli Kunst ist erkrankt, aber sowieso nicht ständig beim Training dabei. „Ich trainiere ohnehin viel allein“, sagt Lückenkemper: „Ich kann mich derart in den Arsch treten, dass ich sogar weine, wenn ich mich verausgabe.“ Es gebe halt Athleten, die immer einen Trainer um sich bräuchten, und es gäbe Menschen wie sie: „Bei mir ist es nicht entscheidend.“

Am Anfang des Trainings braucht es weder Coach noch Selbstkasteiung: Mit Kopfhörern geht sie langsam zwei Runden auf der 400 Meter langen Bahn. Für Gina Lückenkemper könnte aber gerade dies eine besonders große Anstrengung sein, weil sie ansonsten alles sehr flott macht. Die schnelle Läuferin, die gern schnelle Autos fährt, würde auch keinem Wettessen aus dem Wege gehen. Aufs Tempo drückt sie auch im Gespräch, weil „sie sehr gerne, sehr viel und sehr schnell“ rede.

Auch, als sie Plastikhütchen nach genauer per Handy übermittelter Anweisung des Trainers in bestimmten Abständen auf der Tartanbahn verteilt, um Schritt-Rhythmus und -länge auf den ersten Metern nach dem Start zu automatisieren, redet und lacht sie. Nach dem Platzieren der Hütchen wird „Erwin“, wie sie den rotgefärbten Startblock nennt, auf der Startlinie aufgebaut. Manchmal nimmt sie auch Schaumstoff-Klötze als Markierungen und nennt die Trainingseinheit dann „Pommes-Lauf“. Der Spaß am Sport und am Leben darf nie fehlen. Und wegen dieser positiven Ausstrahlung und oft verblüffenden Offenheit ist sie im Eiltempo in die erste Reihe der beliebtesten Sportler in Deutschland aufgestiegen.

„Gina ist halt ein Typ, der die Menschen anspricht, die ihre eigene Meinung vertritt, die kritisch ist, die frei drauflos spricht“, beschreibt Idriss Gonschinska, Generaldirektor des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, das Phänomen Lückenkemper. „Sie tut uns wirklich gut, und sie ist eine unfassbar talentierte Sprinterin.“

Als 18-Jährige war sie bei der WM 2015 in Peking am Start, gewann 2016 bei der EM in Amsterdam Bronze über 200 Meter und mit der Sprint-Staffel. Bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio flitzte das Quartett mit ihr als Vierter knapp an einer Medaille vorbei. Ein Jahr später lief sie bei der WM in London die 100 Meter in 10,95 Sekunden, so schnell wie seit 26 Jahren keine deutsche Frau mehr. Ihr „Karriere-Highlight“ war aber die EM 2018 in Berlin, wo sie Vizeeuropameisterin im Kurzsprint wurde, Staffel-Bronze gewann und zur neuen deutschen Sprint-Königin aufstieg.

„Für mich ist es nicht nur ein Job, sondern ich mache ihn mit Leidenschaft“, sagt Lückenkemper. Damit schafft sie auch die sechs Trainingseinheiten à drei Stunden pro Woche leichter, in denen es nur um ein Ziel geht: noch schneller zu werden! Schneller als die bisherige Bestzeit von 10,95 Sekunden. Um dies zu erreichen, geht es um stete Perfektionierung von Technik, Körperhaltung, Beschleunigung und des Starts. So entdeckte sie erst im Frühjahr im Trainingslager in Japan, als die Staffelkolleginnen ihr regelmäßig auf den ersten 30 Metern davonrannten, dass ihr Startblock jahrelang falsch eingestellt gewesen war.

Keine Frage ist für Lückenkemper, ob sie ihr Tempolimit schon erreicht hat. „Die 10,95 Sekunden sind nicht das Ende der Fahnenstange“, sagt sie. Eine Zeit um 10,80 Sekunden hält sie für realistisch, „eine 10,70er-Zeit vielleicht mit dem perfekten Rennen“. Dopingmittel für die illegale Beschleunigung kommen dabei überhaupt nicht infrage: „Ich könnte es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren, meinen Körper mutwillig zu zerstören. Das sind mir Medaillen nicht wert.“

Jenseits der Jagd nach immer schnelleren Zeiten und Edelmetall sowie dem Kick, als Leichtathletik-Star hofiert, gefeiert, geehrt, interviewt und in viele Fernsehsendungen und -Shows eingeladen zu werden, kümmert sich Gina Lückenkemper so oft es geht um ihren Wallach Picasso. „Ich genieße es, im Pferdestall zu sein. Es ist mein Ruhepol“, erzählt sie beim Striegeln des Fells. Wenn es ihr schlecht gehe, sei Picasso extrem kuschelig.

Gerade dann, wenn die Frohnatur in „ein mentales Loch“ falle – wie jedes Jahr. Manchmal dauere es nur ein paar Tage, 2017 sei sie indes zwei Wochen lang nicht in der Lage gewesen zu trainieren. „Ich habe gelernt, besser damit umzugehen, weil ich gelernt habe, mir einzugestehen, dass es mir auch mal schlecht geht.“

Aus anderen Gründen hatte sie nach der so erfolgreichen vergangenen Saison ein Tief. Bayer 04 Leverkusen hatte ihr mitgeteilt, den Ausrüster zu wechseln und dass sie für den Verein nur weiter starten könne, wenn auch sie wechseln würde. Sie blieb bei ihrem Sponsor. „Mental war das mein Todesurteil, weil ich nach der Saison mal runterkommen wollte“, sagt Lückenkemper, die seit Jahresbeginn nun für den SCC Berlin startet. „Das hat Energie geraubt, weil von den Entscheidungen meine Karriere abhängig war.“

Da tat die lange Wettkampfpause gut, um neue Kraft zu schöpfen für schnelle Läufe und den Trubel als Leichtathletik-Darling der Nation. Dabei liegt es ihr fern, dem Vorbild des einstigen Sprintstars Usain Bolt nachzueifern. „Ich möchte ich bleiben, die Gina aus Westfalen, der die Schnauze so gewachsen ist, wie sie redet“, sagt sie. Für sie sei es ein Gewinn, Menschen mit kleinen Gesten wie einem Selfie mit ihr im Supermarkt glücklich zu machen.

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