Frauenfußball Die Bundestrainerin will „Typen“ entwickeln

Kassel · Die Frauenfußball-Nationalmannschaft hat die WM-Enttäuschung noch nicht verdaut. Die Qualifikation für die EM 2021 beginnt.

 Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg startet mit der deutschen Frauen-Nationalmannschaft an diesem Samstag in die Qualifikation für die EM 2021 in England. Die enttäuschende WM ist noch nicht ganz verarbeitet.

Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg startet mit der deutschen Frauen-Nationalmannschaft an diesem Samstag in die Qualifikation für die EM 2021 in England. Die enttäuschende WM ist noch nicht ganz verarbeitet.

Foto: dpa/Sebastian Gollnow

Die Wunde nach dem schmerzlichen WM-Aus ist bei der deutschen Frauenfußball-Nationalmannschaft noch nicht ganz vernarbt, da geht es in der EM-Qualifikation weiter. Mit der Pflichtaufgabe gegen Montenegro in Kassel an diesem Samstag (12.30 Uhr/ARD) und dem Auswärtsspiel drei Tage später in Lwiw gegen die Ukraine (16 Uhr/ZDF) will Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg den Entwicklungsprozess vorantreiben.

Frau Voss-Tecklenburg, der Start in die EM-Qualifikation am Samstag in Kassel ist als Familientag deklariert. Wie viele Familienmitglieder der Bundestrainerin werden sich denn zur Anstoßzeit um 12.30 Uhr im Auestadion einfinden?

MARTINA VOSS-TECKLENBURG Von mir sind immer Freunde und Bekannte dabei. Und mein Mann lässt ja auch kaum eines unserer Länderspiele aus, der würde am liebsten auch noch drei Tage später in die Ukraine mitfliegen, wenn es ginge.

Wie schwierig wird es, zwei Monate nach dem WM-Aus wieder den Schalter umzulegen?

VOSS-TECKLENBURG Es muss cool sein, sich einer neuen Aufgabe zu stellen. Wir wollen gleich im ersten EM-Qualifikationsspiel mit viel Spielfreude an die Sache rangehen. Sicherlich wird unser Gegner mit allen Mitteln verteidigen, aber ich möchte, dass die Mannschaft das Spieltempo permanent hochhält, auch wenn nicht alle Nationalspielerinnen bei 100 Prozent sein können. Wir sagen daher auch nicht, wir schießen soundsoviel Tore.

Bevor die Absage der verletzten Melanie Leupolz kam, hatten Sie bis auf die zurückgetretene Lena Goeßling sowie die verletzten Marina Hegering und Almuth Schult exakt den WM-Kader berufen. Warum?

VOSS-TECKLENBURG Zwei Komponenten kommen zusammen: Wir sind einerseits von diesem Team überzeugt, andererseits wollen wir die Aufarbeitung gemeinsam anstellen, in dem wir Gespräche führen oder Befindlichkeiten aufklären, nachdem wir bei der WM sehr abrupt auseinandergehen mussten.

War die Niederlage im WM-Viertelfinale gegen Schweden Ihre persönlich größte Enttäuschung als Trainerin?

VOSS-TECKLENBURG Ich habe in meiner Trainerkarriere ein Ausscheiden mehrfach erlebt. Das ist mir mit der Schweiz passiert, aber auch im Clubfußball stellt man fest, dass es nicht so optimal läuft, wie man sich das gewünscht hat. Natürlich hat mich das lange beschäftigt, und dann kam noch die Geschichte mit Florijana Ismaili (die Schweizer Nationalspielerin wurde nach einem Badeunfall vermisst und am 2. Juli tot aufgefunden, Anmerkung der Red.) dazu, was mich tief, tief getroffen hat. Das hat mich als Mensch unheimlich berührt.

Weil Sie eine besondere Beziehung zu ihr hatten?

VOSS-TECKLENBURG Sie hat fünf Jahre bei mir gespielt. Ich habe sie damals in die Nationalmannschaft der Schweiz geholt. Hier war die Beziehung zur Spielerin noch intensiver, weil ich sie noch auf vielen anderen Wegen ihrer Karriere betreut habe. Ich habe ihr Ratschläge gegeben, wie ihr weiterer Weg aussehen könnte. Auch der Kontakt zu ihrer Familie war da.

Die Ausgangslage ist jetzt, dass die Frauen-Nationalmannschaft die nächsten zwei Jahre Mühe haben wird, ins öffentliche Bewusstsein vorzustoßen.

VOSS-TECKLENBURG Es ist einfach schade, dass wir nicht das Olympia-Turnier spielen können. Nun müssen wir versuchen, den Entwicklungsprozess anders zu gestalten. Über hochkarätige Freundschaftsspiele und wohl auch den Algarve Cup im nächsten Jahr. Wir werden auch genau hinsehen, was mit den Spielerinnen passiert, die im Sommer die Vereine gewechselt haben: Wir müssen beobachten, wie viel sie spielen, ob sie spielen, wie sie spielen. Das kann dazu führen, dass wir in zwei, drei Monaten noch Anpassungen vornehmen.

Die derzeit verletzte Nationaltorhüterin Almuth Schult hat unverblümt ein Mentalitätsproblem ausgemacht. Was können Sie konkret tun, um mehr Charakterköpfe herauszubilden?

VOSS-TECKLENBURG Ich kann nicht gesellschaftliche Entwicklungen beeinflussen. Wir haben schon Typen, die wir in den U-Teams durch unsere Trainerinnen unterstützen wollen und ihre Individualität ausleben lassen. Aber wir decken nur einen Teil ihrer Ausbildung ab. Ich habe gerade einer jungen Spielerin in einem neuen Club gesagt, dass sie Wünsche ihres Trainers zu erfüllen hat. Anpassung gehört zu einem Reifeprozess auch dazu.

Werden Giulia Gwinn, die mit 19 Jahren zur besten Nachwuchsspielerin der WM gewählt wurde, und Lena Oberdorf, die mit 17 Jahren die jüngste deutsche WM-Spielerin aller Zeiten wurde, bereits mehr Verantwortung bekommen?

VOSS-TECKLENBURG Natürlich. Giulia ist bereits ein fester Bestandteil unseres Teams. Bei Lena müssen wir die Belastung durch die Schule berücksichtigen und auch darauf achten, dass sie alles gesundheitlich durchsteht. Sie ist ein Toptalent, aber ich fand richtig, dass ihr Vereinstrainer Markus Högner sie am ersten Spieltag nicht gleich aufgestellt hat. Ich denke noch an Klara Bühl, die sich entwickeln kann; an Lina Magull, die noch nicht gefestigt ist.

Wäre es hilfreich zu sagen, sie sollen sich einfach an der US-Amerikanerin Megan Rapinoe orientieren? Ein besseres Vorbild gibt es doch im Frauenfußball gerade nicht, oder?

VOSS-TECKLENBURG Ich glaube schon, dass Vorbilder generell helfen. Wir haben meinungsstarke Spielerinnen, aber wir können auch nichts konstruieren. Ich bin mir sicher, dass es bei uns gesellschaftlich engagierte Akteure gibt, die sich zum richtigen Zeitpunkt äußern würden. Wir stärken sie in allen Bereichen. In den USA bewegen sich die Nationalspielerinnen aber in anderen Dimensionen.

Die US-Spielerinnen sind beim Verband angestellt, bestreiten zahlreiche Länderspiele im Jahr, sind viel länger für Maßnahmen zusammen als die 80 Tage in Deutschland und partizipieren direkt von der Vermarktung, selbst von den Zuschauerzahlen.

VOSS-TECKLENBURG Das ist es. Sie sind permanent in TV-Sendungen oder Talkrunden, sie sind in allen Facetten sportlich, gesellschaftlich und politisch präsent. Diese Gegebenheiten haben wir in Deutschland nicht. Ich kann versprechen: Wir unterstützen die Persönlichkeitsentwicklung nach bestem Wissen und Gewissen. Es wäre cool, wenn wir auch so ein Selbstverständnis entwickeln, dass jede Spielerin auf den Platz geht und von sich so überzeugt ist und sagt: Ich kann das, ich mach das, ich schaff das – gebt mir den Ball! Aber da sind wir noch nicht.

War ihre Generation in den 80er und 90er Jahren nicht genauso?

VOSS-TECKLENBURG Nein. Wir hatten auch nur einzelne. Wir nennen zuerst immer Birgit Prinz, danach Inka Grings, dann überlegen wir, der ein oder andere nennt auch mich, weil ich was gesagt habe. Aber unsere Abwehrspielerin Jutta Nardenbach - nur ein Beispiel – hat sich doch fast nie geäußert.

Was war denn der Vorteil der deutschen Fußballerinnen damals?

VOSS-TECKLENBURG Wir waren sehr früh zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Als eine Generation von Fußballerinnen, die auf der Straße groß wurde und zusammengefunden hat. Heute haben wir doch eine viel größere Dichte an guten Spielerinnen, was ich aus meiner Zeit als Verbandssportlehrerin wirklich beurteilen kann. Am Anfang habe ich aus 40 Mädchen zwei Talente ausmachen können, heute sind es viel, viel mehr.

Ist die Vizeeuropameisterschaft der U19-Frauen ein weiterer Beleg, dass es um den Nachwuchs nicht schlecht bestellt ist?

VOSS-TECKLENBURG Es gibt keinen Grund zur Schwarzmalerei. Es ist für mich total erfreulich, dass die Mädels die Qualifikation für die U20-WM geschafft haben, weil es im Juniorinnen-Bereich immer enger zugeht. Unsere Grundvoraussetzung muss sein, dass unsere Teams Turniere, Turniere, Turniere spielen, weil diese Erfahrungen sonst nirgendwo zu machen sind. Auch wenn es manchmal bittere Erlebnisse sind.

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