Sind 500 Milliarden nicht genug? Brüssel zwingt Orban in die Knie

Brüssel. Kaum hatte Euro-Gruppen-Chef Jean-Claude Juncker gestern Morgen die Einigung über den neuen Hilfsmechanismus für Schuldenstaaten verkündet, ging der Streit schon weiter. Nicht wie vereinbart 500 Milliarden Euro, sondern eine Billion sei nötig, forderte die Chefin des Internationalen Währungsfonds, Christine Lagarde, erneut

Brüssel. Kaum hatte Euro-Gruppen-Chef Jean-Claude Juncker gestern Morgen die Einigung über den neuen Hilfsmechanismus für Schuldenstaaten verkündet, ging der Streit schon weiter. Nicht wie vereinbart 500 Milliarden Euro, sondern eine Billion sei nötig, forderte die Chefin des Internationalen Währungsfonds, Christine Lagarde, erneut. Denn "wir brauchen eine größere Brandmauer", sagte sie. "Die Idee hinter dem Schutzwall ist, dass dieser groß genug ausfällt, damit Investoren, Menschen, die finanzieren und die auch spekulieren, ermutigt werden, weil die Brandmauer dick genug ist, dass das Feuer nicht durchkommt."Die Finanzminister der 17 Euro-Staaten hatten sich in stundenlangen Diskussionen von ihrem Kurs aber nicht abbringen lassen. Wie von den Staats- und Regierungschefs am 9. Dezember beschlossen, billigten sie den Vertrag über den Europäischen Stabilisierungsmechanismus ESM. Der verfügt über Finanzmittel von 500 Milliarden Euro, 80 Milliarden zahlen die Mitgliedstaaten bar ein, aufgeteilt in fünf Raten bis 2016. Deutschland finanziert mit rund 22 Milliarden Euro in bar und Zusagen über 168 Milliarden genau 27,15 Prozent des neuen Fonds. Berlin zeigte sich gestern noch einmal bereit, seinen Anteil schneller aufzubringen und rund neun Milliarden schon in diesem Jahr nach Luxemburg zu überweisen, vorausgesetzt andere machen mit.

Der Kapitalstock, so sagen die Brüsseler Finanzexperten, sei der entscheidende Unterschied zum bisherigen Rettungsschirm. Denn so könne man die Anleger von der Festigkeit der neuen Notkasse überzeugen. Zumal auch nur der Staat Hilfe aus dem ESM bekommen wird, der auch den Vertrag über die Fiskalunion unterzeichnet und somit stabile Staatsfinanzen garantiert hat. Wenn der EU-Gipfel am kommenden Montag zustimmt und die "Chefs" im März das Papier unterschreiben, kann der ESM am 1. Juli starten - ein Jahr früher als zunächst geplant. Schon im März will man trotzdem einen Kassensturz machen, um zu überprüfen, ob die 500 Milliarden wirklich reichen. Das ist kein Nachgeben gegenüber den Befürwortern einer Ausweitung des ESM. Die Gegenrechnung war lange geplant. Denn bis dahin dürfte man einen größeren Überblick über die Kassenlage in den Schuldenstaaten haben.

Griechenlands Finanzminister Evangelos Venizelos musste sich von seinen Kollegen erneut harsche Kritik anhören, weil der Reformstau immer größer werde. "Geld gibt es nur, wenn die Schuldentragfähigkeit gesichert ist", betonte Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU). Das Reformprogramm der Hellenen sei "entgleist" und müsse "erheblich" nachgebessert werden, bevor neue öffentliche Hilfe überhaupt denkbar sei, sagte Juncker. Die Reformfortschritte kommen nicht so voran, wie sich das die Troika aus EU, IWF und Europäischer Zentralbank (EZB) vorstellt. Die Prüfer vermissen Erfolge bei der Staatsverschlankung und fordern die Entlassung von 150 000 Staatsbediensteten bis 2015. Außerdem sollen im privaten Sektor das 13. und 14. Monatsgehalt abgeschafft oder drastisch gekürzt werden.

Noch in dieser Woche soll die Vereinbarung Griechenlands mit dem Internationalen Bankenverband IIF über den Schuldenschnitt unter Dach und Fach gebracht werden. Die Gläubiger sollen auf die Hälfte verzichten, für die anderen 50 Prozent will Griechenland ihnen Papiere mit Laufzeiten bis zu 30 Jahren und vier bis 4,5 Prozent Zinsen geben. "Zu hoch", moniert der IWF und fordert "eine drei vor dem Komma". Sonst komme Athen nicht wie angestrebt in absehbarer Zeit auf eine Verschuldung von 120 Prozent der Jahres-Wirtschaftsleistung (derzeit 160 Prozent). Auch Juncker machte Druck auf den Bankenverband: Der Zins müsse "klar unter vier Prozent" liegen. dr/dpa

Brüssel. Viktor Orban hat alle Sympathien in Brüssel verspielt. Als der ungarische Ministerpräsident gestern nach Brüssel kam, dürfte er wohl gehofft haben, mit seiner Bereitschaft zur Änderung umstrittener Gesetze die Wogen glätten zu können. Doch schon der erste Termin ging daneben. Martin Schulz, der gerade gewählte Präsident des Europäischen Parlamentes, rief dem Ungarn nach dem Treffen hinterher, er praktiziere "Doppelzüngigkeit", indem er in Brüssel das eine, in Budapest aber etwas ganz anderes sage. Schulz: "Der ungarische Ministerpräsident sollte die Verantwortlichen der EU nicht für Idioten halten."

Nur wenig später bilanzierte die dänische Finanzministern Margrethe Vestager zusammen mit ihren Kollegen: "Ungarn hat nicht das Nötige getan", um ein Defizitverfahren zu vermeiden. Und als Orban dann mit Kommissionspräsident José Manuel Barroso zusammentraf, machte der dem Ungarn schon vor der Türe klar, er soll sich nicht einbilden, dass nach dem Gespräch die drei Vertragsverletzungsverfahren gestoppt würden. "Ein Treffen kann das Verfahren nicht ersetzen."

Die Härte, die dem zu Hause mit Zweidrittel-Mehrheit regierenden Orban entgegenschlägt, hat ihren Grund. Für sich genommen mögen die Einschränkung der Unabhängigkeit der Notenbank, die Herabsetzung des Pensionsalters für Verfassungsrichter und der Austausch des Datenschutzbeauftragten kein unüberwindbares Hindernis für gute Beziehungen sein. Aber in Brüssel gewinnt man den Eindruck, dass sich die Verstöße gegen europäisches Recht so häufen, dass man nun einschreiten muss. Erste Stimmen unter den 26 Kommissaren fordern bereits, ein Sanktionsverfahren nach Artikel 7 des Lissabonner Vertrages einzuleiten. Dies würde bedeuten, dass Ungarn ab 2013 keine Fördermittel mehr bekommt und in wichtigen Ministerräten das Stimmrecht verliert.

Orban dürfte das treffen. Doch wirklich einknicken würde er deshalb wohl nicht. Was ihn aber tatsächlich zum Rückzug bewegt hat, ist die Weigerung der EU (und des Internationalen Währungsfonds), dem hoffnungslos überschuldeten Land dringend nötige Milliardenspritzen zu versagen. Das Land braucht sehr bald 20 Milliarden Euro, sonst ist es in Kürze bankrott. In Brüssel versprach Orban gestern deshalb eilfertig, die beanstandeten Gesetze nachzubessern. Seine Hoffnung: Wenn die EU die Vertragsverletzungsverfahren einstellt, fließt endlich auch wieder Geld. dr

Foto: Charlier/afp

Meinung

Auf dem Weg zur Stabilitätsunion

Von SZ-KorrespondentDetlef Drewes

Noch ist der europäische Weg nur ein Modell - bis die Vereinbarungen beschlossen, unterschrieben und in jedem Land gebilligt sind. Gelingt dies in den nächsten Monaten, hat der Euro-Raum etwas Unverwechselbares geschaffen: ein sich selbst kontrollierendes System gegen Staatsverschuldung und einen dauerhaften Mechanismus als Brandmauer gegen neue Krisen. Das Gesamtwerk ist, auch wenn es noch Schwächen im Detail geben mag, bemerkenswert: nicht nur wegen seiner Einzelbestimmungen, sondern auch als Katalog politischer Bedingungen, an denen niemand auf Dauer mehr vorbeikommen wird. Europa hat offenbar gelernt.

Dass die Staaten, die der Vereinbarung zur Einführung des Krisenfonds ESM und der Fiskalunion zustimmen, ihre Versprechungen aber auch ernst meinen, müssen sie noch beweisen.

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