"Sie hat den Schmerz getroffen"

Saarbrücken. "Sie hat den Schmerz getroffen, den sie mit sich herumtrug", heißt es im Film über ihren Gesang. Es ist eine bittere Vita, von der die Dokumentation "Sing! Inge, sing!" erzählt. Um die Jazzsängerin Inge Brandenburg (1929-1999) geht es, um eine traumatische Kindheit, eine verkorkste Karriere, ein traurig endendes Leben

Saarbrücken. "Sie hat den Schmerz getroffen, den sie mit sich herumtrug", heißt es im Film über ihren Gesang. Es ist eine bittere Vita, von der die Dokumentation "Sing! Inge, sing!" erzählt. Um die Jazzsängerin Inge Brandenburg (1929-1999) geht es, um eine traumatische Kindheit, eine verkorkste Karriere, ein traurig endendes Leben. Als Neunjährige ist sie in Dessau Zeuge, wie die Gestapo ihren kommunistischen Vater verschleppt (er kommt nie zurück); die Mutter wird auf dem Weg ins KZ ermordet, die Tochter kommt ins Heim; sie flieht nach dem Krieg, wird von US-Soldaten vergewaltigt, kommt bei einer Bäckerfamilie unter und nach Feierabend als Sängerin bei einer Tanzkapelle.

Als ein schwedischer Agent sie als Jazzsängerin entdeckt, beginnt eine Karriere, die nie ganz erblüht: Zwar gewinnt Brandenburg 1960 beim Festival Juan-les-Pins den Titel als "Beste Jazzsängerin Europas", aber in ihrer Heimat weiß die Plattenindustrie wenig mit ihr anzufangen. Eine Firma nimmt sie unter Vertrag, will sie aber lieber als Schlagersängerin vermarkten - mit Singles wie "Südlich von Hawaii (Flaschenpost)". Brandenburg klagt gegen die Plattenfirma - und bringt eine Industrie gegen sich auf. Die Auftritte werden seltener, die Künstlerin schwieriger: Alkoholexzesse, Prügeleien, Affären, in denen sie als Ausgenutzte zurückbleibt. Nach Theaterauftritten und trügerischen Fast-Comebacks lebt sie zuletzt von Sozialhilfe und einem Taschengeld fürs Ausführen der Nachbarshunde. Sie stirbt mit 70.

Ein schwieriges Filmthema, aber Regisseur Marc Boettcher hat Erfahrung mit Künstlerbiografien - seine Dokus über Bert Kaempfert, Alexandra und Gitte Haenning sind viel beachtet. "Als ersten oder zweiten Film hätte ich das nicht machen können", sagt Boettcher, der gerade auch an der Biografie Brandenburgs schreibt. "Es zieht einen schon sehr runter." Für Boettcher ist die zentrale Frage, "wie sie damit umging, dass sie als Europas beste Jazzsängerin Schlager singen musste." Direkt damit verbunden ist das Thema einer Frau in einer männerdominierten Industrie. "Viele Karrieren sind gescheitert", sagt Boettcher, "weil Frauen nicht das singen wollten, was Männer ihnen vorsetzten. Manche, wie Bibi Johns etwa, wurden regelrecht gesperrt." Auch hätten selbsternannte Jazz-Päpste den Daumen gehoben oder gesenkt und so Karrieren befeuert oder behindert.

Davon erzählt Böttcher in einer sehr dichten Montage mit Interviews mit Brandenburg, ihren Auftritten, die stilistisch heute etwas veraltet, dennoch sehr intensiv wirken, und Gesprächen mit Kollegen von damals: darunter Charly Antolini, Emil Mangelsdorff, Peter Herbolzheimer und Joy Fleming.

Brandenburg hat sich selbst, das gibt Boettcher zu, oft selbst im Weg gestanden, verständlich bei ihrer Vita. "Ihr Psychiater diagnostizierte schizophrene Züge. Als sie 40 wurde, hat die Vergangenheit sie eingeholt - alles, was sie vorher hätte bewältigen müssen." Ihre Theaterarbeit habe sie immer wieder mit Krieg und dem eigenen Schicksal konfrontiert. "Da hat sie immer sich selbst gesehen, zum Alkohol gegriffen und dann randaliert." Hinzu kam das Unglück mit Männern. "Sie war immer auf der Suche und wurde jedes Mal nur herumgereicht wie Freiwild." Einige der befragten Gesprächspartner, die es im Film weit von sich weisen, jemals etwas was mit ihr gehabt zu haben ("aber alle anderen"), wirken denn auch nicht immer glaubwürdig. "Letztendlich hatten sie alle was mit ihr - und heute ein schlechtes Gewissen", glaubt Boettcher. "Man hat sie hinter der Bühne im Jazzkeller genommen und ist danach wieder brav nach Hause zur Ehefrau."

Bei alledem bewundert Boettcher Brandenburgs Stärke, wie sie als "von GIs Vergewaltigte in US-Jazzclubs auftrat", wie sie sich ohne Schulbildung Englisch beibrachte, eigene Texte schrieb, Verträge aushandelte. "Sie war wahnsinnig stark."

Das Thema kam auf verschlungenen Wegen zu Boettcher. Ein Sammler hatte auf einem Flohmarkt ein Foto-Album gefunden - von der ihm unbekannten Brandenburg. Der Sammler kaufte den gesamten Nachlass und nahm Kontakt zu Boettcher auf, dessen Kaempfert-Film er schätzte. Der Regisseur ordnete den Nachlass und begann die Arbeit am Film - erst einmal ohne Geldgeber, denn "der Name zieht nicht". Irgendwann war das Fernsehen dabei, was Boettcher eher auf den "einen Wunsch frei"-Effekt nach seinen erfolgreichen Dokus zurückführt. Einen der treffendsten Sätze über Brandenburg stammt von der Konzertveranstalter-Legende Fritz Rau, der viel über den Muff der Zeit aussagt, an dem sie erstickte: "Sie war radikal im Denken und hat den Mund zur Unzeit geöffnet."

Marc Boettcher stellt seinen Film am Mittwoch um 20 Uhr im Kino Achteinhalb (Sb) vor. Außerdem spielen Georg Ruby & HFM Workshop Band.

Auf einen Blick

Die anderen neuen Filme ab Donnerstag: Die Camera Zwo (Sb) zeigt "On the road", die etwas angestrengte Adaption des klassischen Beatnik-Romans von Jack Kerouac, und den studentischen Liebesreigen "3 Zimmer/Küche/Bad".

Im Filmhaus läuft die französische Romanze "Paris Manhattan" um die Liebeswirren eines Woody-Allen-Fans.

In mehreren Kinos der Region starten die gelungene Fortsetzung "Madagascar 3", die ambitionierte Zeitreise "Looper" mit Bruce Willis und der durchschnittliche Grusel-Action-Hybrid "Abraham Lincoln, Vampirjäger". red

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