Sechser im Lotto der Geschichte

Wenn man sich an die dramatischen Ereignisse auf dem Maidan in Kiew, die blutige Revolution des Tahir in Kairo oder die Tragödie auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking erinnert, dann wird im Vergleich klar, wie viel Glück im Mauerfall steckt.

Er war ein absoluter historischer Sonderfall, wie ein Sechser im großen Lotto der Geschichte. Selbst wo Revolutionen nicht scheitern oder nachher in ihr Gegenteil verkehrt werden, ist ihr Verlauf selten so friedlich.

An der deutsch-deutschen Grenze kollabierten am 9. November 1989 ein Regime und ein Staat, und trotzdem fiel kein einziger Schuss. Walter Ulbricht und Erich Honecker hatten noch instinktiv begriffen, dass ihr Regime ohne Mauer dem Untergang geweiht war. Sie gestanden es sich nur nicht ein. Egon Krenz und Günter Schabowski dagegen glaubten ab einem bestimmten Punkt an eine reformierte sozialistische DDR ohne Mauer. Es war ihre letzte Illusion. Sozialismus ohne Zwang gibt es nicht.

In Deutschland kam noch etwas Entscheidendes hinzu: die Entschlossenheit jener, die keinen anderen Sozialismus wollten, wie die Bürgerrechtler, sondern nur noch weg von ihm. Die Ausreisewilligen spielten im Geschehen des Herbstes 1989 eine viel größere Rolle, als heute wahrgenommen wird. Die Bundesrepublik bot ihnen die Möglichkeit, sich dem eigenen Staat durch Wegzug total zu verweigern. So etwas haben Russen, Uiguren, Tibetaner, Chinesen oder Syrer heute nicht.

Kann man aus den Vorgängen lernen, wenn darin doch so viel Glück und Zufall lag? Erstens: Jede Veränderung braucht Veränderer. Ohne den Mut von Bürgern und Freiheitskämpfern bewegt sich nichts. Lernen kann man außerdem, dass die größte Gefahr für Diktatoren die Aufmerksamkeit der Welt ist. Durch Unterschriften-Aktionen, durch Twitter-Bilder, Proteste vor Botschaften. Lernen kann man drittens, dass siegreiche Befreiungsbewegungen schnell massive internationale Hilfe benötigen, damit ihr Staat nicht zerfällt. Ohne die Bundesrepublik hätte das der DDR genauso drohen können, wie es in den Ländern des arabischen Frühlings geschah. Und wie es der Ukraine passieren könnte, wenn die EU sich nicht genügend engagiert.

Vor allem aber kann man aus den Tagen des Mauerfalls mitnehmen, dass selbst auf ewig angelegte Unterdrückungssysteme irgendwann und irgendwo ihren Schwachpunkt haben. Ob in der Wirtschaft, in der Politik oder in der Zivilgesellschaft - man sollte gar nicht erst anfangen, solche Regimes für unvergänglich zu halten. Auch dann nicht, wenn man mit ihnen handeln und verhandeln muss. Der Freiheitsdrang der Menschen lässt sich auf Dauer nicht bremsen, er ist stärker und wird sich durchsetzen. Eines Tages auch in Moskau, in Peking und überall sonst.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort