Zwischen Nussknacker und Breakdance

Wenn Nigel Campbell auf der Bühne steht, ist er der Nussknacker. Dann verschwindet sein Gesicht hinter einer bleichen Fassade, blauen Augen und großem Schnurrbart. Niemand im Publikum ahnt, dass die Nussknacker-Maskerade das Antlitz eines jungen Afroamerikaners verdeckt, der vor einem Jahr aus Manhattan an die Saar zog und noch immer kaum ein Wort Deutsch spricht

Wenn Nigel Campbell auf der Bühne steht, ist er der Nussknacker. Dann verschwindet sein Gesicht hinter einer bleichen Fassade, blauen Augen und großem Schnurrbart. Niemand im Publikum ahnt, dass die Nussknacker-Maskerade das Antlitz eines jungen Afroamerikaners verdeckt, der vor einem Jahr aus Manhattan an die Saar zog und noch immer kaum ein Wort Deutsch spricht. Trotzdem fühlt sich Campbell in Saarbrücken zuhause. Die Gastfreundschaft sei so "amazing" (unglaublich), sagt er in breitem Amerikanisch und lacht ein kindlich-ansteckendes Lachen. 22 Jahre jung ist der Protagonist von Marguerite Donlons Inszenierung des Tschaikowsky-Ballett-Klassikers am Saarländischen Staatstheater. Biografisch repräsentiert er das typische Ensemble-Mitglied: geboren und studiert im Ausland, Umzug nach Deutschland, Job in Saarbrücken. Alle 16 Mitglieder des Saarbrücker Ballett-Ensembles sind Einwanderer. Schon immer war die Kunst- und Kultur-Szene international, war weit weniger von Länder- und Sprachgrenzen beeinflusst als andere gesellschaftliche Bereiche. Dass sich im gesamten Ballett-Ensemble eines großen Hauses wie des Staatstheaters kein einziger deutscher Staatsbürger findet, verdeutlicht jedoch die neuen Ausmaße eines globalisierten Kulturbetriebs. "Wir sind wie eine große internationale Familie", sagt Campbells Kollegin Yamila Khodr (25) über das Donlon-Ensemble. Die Argentinierin - im "Nussknacker" tanzt sie die Zuckerfee - lebt nun seit dreineinhalb Jahren in Saarbrücken. Khodrs Satz beschreibt im Grunde das gesamte künstlerische Personal des Staatstheaters: Fast ein Drittel der Schauspieler, Opernsänger, Tänzer und Orchestermitglieder haben keine deutsche Staatsbürgerschaft. Trotzdem liegt die Ausländer-Quote im Haus noch immer unter der einer weiteren großen Kulturinstitution der Stadt, der Hochschule für Musik (HfM). Fast 40 Prozent der HfM-Studenten kommen aus dem Ausland. Wer während des Semesters schon einmal durch die Flure und Räume des Hochschulgebäudes in der Bismarckstraße gewandelt ist, weiß was der Begriff "Nationen-Mix" bedeutet: Hier proben, pauken, quatschen Europäer, Asiaten, Amerikaner zusammen. Und am Abend stehen sie gemeinsam auf der Bühne. Es herrscht eine friedliche Stimmung trotz ausgeprägter Konkurrenz-Atmosphäre. Auch hört man hinter vorgehaltener Hand immer wieder die Klage des einen oder anderen Europäers über "virtuose Russen" und "disziplinierte Asiaten", die den europäischen Interpreten der klassisch-abendländischen Musikliteratur immer mehr den Rang abliefen. Doch ausgeprägter als die klassischen Vorurteile zwischen Schul- und Kirchenmusik-Studenten sind auch diese Differenzen nicht. Im Großen und Ganzen identifiziert man sich über die gemeinsame Liebe zur Musik. Identifikation mit der gemeinsamen Leidenschaft ist auch das, was die Studenten einer weiteren Bildungseinrichtung verbindet: Zwar liegt der Ausländeranteil der Hochschule der Bildenden Künste (HBK) "nur" bei 14 Prozent. Dass es sich bei dieser Gruppe jedoch um eine sehr engagierte Minderheit handele, hört man von allen Seiten. Kunst, Musik und Theater werden in Saarbrücken also zu einem gehörigen Maß von Einwanderern mitgestaltet. Und doch, zu einer intakten Kulturszene gehört immer auch die Rezipientenseite. Da zeichnet sich ein gänzlich anderes Bild: Ob Museum oder Konzertsaal - das Saarbrücker Publikum setzt sichnach wie vor fast ausnahmslos aus Deutschen zusammen. Zumindest vordergründig scheint es einen Mangel an kulturinteressierten Migranten zu geben. Daher sind die großen Kulturinstitutionen nun in die Offensive gegangen: Während am Staatstheater eine "Brückenbauerin" Migranten aus so genannten bildungsfernen Schichten für Goethe, Brecht und Co. zu begeistern versucht (siehe Interview unten), verbindet das Programm "Deutsch lernen im Museum" des Saarlandmuseums Sprach- und Bildungskurse. Was auf den ersten Blick wie Kultur-Desinteresse der Migranten wirken mag, ist bei näherer Betrachtung alles andere als dies. Eine Einwanderungsgesellschaft ist immer auch geprägt von Kulturformen, die von außen in die Gesellschaft getragen werden. Sucht man in Saarbrücken nach diesen Kulturformen, wird man schnell fündig. Da gibt es etwa das von der bulgarischen Tanzpädagogin Katia Dimitrova geführte Laien-Ensemble Boyana, das sich vor allem dem osteuropäischen Folklore-Tanz verschrieben hat. Da gibt es den Interkulturellen Chor von Amei Scheib. Da gibt es brasilianische Capoeira-Tanz-Kurse im Nauwieser Viertel. Und, und, und. An der Universität des Saarlandes - mit 17 Prozent Ausländeranteil unter den Studenten eine der besonders internationalen Voll-Universitäten Deutschlands - bietet sich ein ähnliches Bild: Von fremdsprachigen Theatergruppen bis hin zu kulinarischen Spezialitätentagen reichen die Initiativen, die längst nicht mehr nur auf den Campus beschränkt bleiben. Schließlich findet sich in Saarbrücken auch ein Phänomen, das Soziologen als Subkultur-Szene bezeichnen. Es ist eine Szene, die sich bewusst jenseits des Etablierten positioniert. Latino-Flair am Saar-Strand Big Island, Gitarren-Folk in den irischen Pubs, New Yorker Breakdance-Akrobatik im Jugendzentrum Försterstraße: Hier sind auf natürliche Art und Weise Orte kultureller Integration gewachsen, treffen ohne politische Schützenhilfe Menschen verschiedener Nationen aufeinander. Vielleicht sind die deshalb sogar die wichtigsten Kultur-Stätten Saarbrückens.

Auf einen BlickBisher erschienen:18.9.: Einführung25.9.: Arbeitsmarkt6.10.: Religion9.10.: Soziale Integration16.10.: BildungAlle Teile unserer Serie finden Sie im Internet.

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