Zurück am Schicksalsort

Saarbrücken · Der saarländische Komponist Rudolf Strassner hat nach über 60 Jahren wieder das russische Lager besucht, in dem er seine Kriegsgefangenschaft verbrachte. Filmemacher Sebastian Voltmer hat ihn mit der Kamera begleitet. Der dabei entstandene Film wurde am Donnerstag in Saarbrücken uraufgeführt. Ohne Rudolf Strassner – er ist im Januar dieses Jahres gestorben.

 Rudolf Strassner und das Klavier in Brjansk, an dem er über 60 Jahre nicht gespielt hat. Foto: Voltmer

Rudolf Strassner und das Klavier in Brjansk, an dem er über 60 Jahre nicht gespielt hat. Foto: Voltmer

Foto: Voltmer

Ob er denn auch geschossen habe im Krieg, fragt die Dolmetscherin. "Nein, ich hatte kein Gewehr", sagt Rudolf Strassner. Flak-Helfer sei er gewesen, an einem Flugabwehrgeschütz. Ob er damit auch Flugzeuge getroffen habe? "Jaaa - Zufall", entgegnet Strassner. Es sind Momente wie diese, unsentimental, komisch und traurig zugleich, die den Film "Musik rettete mein Leben" auszeichnen. Sebastian Voltmers Dokumentation erzählt von Rudolf Strassner, dessen Jugend exemplarisch ist für die einer ganzen Kriegsgeneration. Eben noch Gymnasiast in Dudweiler, wird er eingezogen und Flak-Helfer - drei Monate später findet er sich in russischer Kriegsgefangenschaft wieder, in der Stadt Brjansk, 300 Kilometer von Moskau entfernt. Ein Zufall rettet ihn vor der Verlegung nach Sibirien, ein Klavier erspart ihm die Zwangsarbeit: Als der Lagerkommandant Strassner Klavier spielen hört, befielt er ihm, ein Lagerorchester aufzubauen und in der Musikschule der Stadt Unterricht zu geben. Eine Sonderbehandlung, die das Lagerleben vergleichsweise erträglich macht. "Ich hatte da eine kleine Freundin", sagt Strassner, die ihm am Klavier sehr tief in die Augen geblickt habe - und umgekehrt. Als er 1949 wieder in die Heimat darf, steht Anuschka am Bahnsteig von Brjansk und weint - das Bild vergisst er nie.

Diese Geschichte hat Strassner dem Saarbrücker Filmemacher Sebastian Voltmer erzählt, als die beiden vor einigen Jahren zusammen Musik gemacht haben. Als Strassner, damals schon über 80, beschließt, nach über 60 Jahren noch einmal zu dem Lager zu reisen, ist Voltmer mit der Kamera dabei. Die Dokumentation, die dabei entstand, war am Donnerstag zum ersten Mal zu sehen, im Saarbrücker Kino Achteinhalb, gefüllt bis in die letzte Ecke. Der Film erzählt ohne Gefühligkeit oder Dramatisierung und ist gerade dadurch anrührend: Wenn Strassner nach 60 Jahren einen alten Leidensgenossen wiedersieht, gibt es keine pathetische Musik oder Umarmungen in Zeitlupe, sondern Kaffee, Kuchen und Puderzucker im Gesicht, durch die verzehrten Berliner.

Der deutsche Besucher bleibt in Brjansk nicht unbeachtet: Ein Fernsehteam interessiert sich für ihn und macht später, als er schon wieder weg ist, aus Strassners Schicksal ein kleines TV-Event: Man versucht, das Mädchen von einst zu finden; die Hoffnung erfüllt sich nicht. Anuschka ist gestorben, hat zum Zeitpunkt von Strassners erster Reise aber noch gelebt, sogar in Brjansk - man hätte sich zufällig begegnen können. Strassner muss das hinnehmen. Dazu passt ein Satz des Musikers über einen schrägen Akkord: "Das ist nicht dissonant", sagt er, "das ist das Leben." Strassner selbst stirbt im Januar 2013, mit 85 Jahren. Doch damit endet der Film nicht: Voltmer tritt noch einmal eine filmische Reise an - Strassners Tochter besucht die Familie von Anuschka.

Langen Applaus erhielt der fast zweistündige (und noch nicht ganz fertige) Film, den Voltmer nach dem Feinschliff bei russischen Festivals einreichen will. Deren Interesse hätte er mehr als verdient.

"Die Musik rettete mein Leben" läuft noch einmal im Kino Achteinhalb, mit Diskussion: am Sonntag um 11 Uhr.

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