„Wir sehen nur die Spitze des Eisbergs”

St Wendel · 95 Prozent der von sexuellem Missbrauch Betroffenen zeigen ihre Peiniger nicht an. Opfer sind oft ihr Leben lang traumatisiert.

Sexueller Missbrauch - das ist ein heikles Thema. Über die Opfer und deren Ängste unterhielt sich SZ-Redakteurin Melanie Mai mit dem Psychologen und Heilpraktiker für Psychotherapie Manfred von Kannen. Sexueller Missbrauch gehört unter anderem zu seinen Arbeitsgebieten in seiner Praxis in St. Wendel. Außerdem gehört er zum Team von Lichtweg.de, einer gemeinnützigen Organisation, die Hilfe für traumatisierte Menschen und deren Angehörige bietet.

Herr von Kannen, in Ihrer Praxis sind Sie unter anderem zuständig für das Thema sexuellen Missbrauch. Dieses Thema ist für viele Menschen ganz weit weg. Wie nah sind Sie dran? Wie ausgelastet sind Sie?

Manfred von Kannen: Durch meine Patienten und durch deren Offenheit bin ich zumeist sehr nah dran am Thema. Wenn man die Geschichten, oft in all ihrer Brutalität hört, dann muss man selbst schon sehr gefestigt sein. Und bedingt durch die Hypnotherapie, auf die ich mich spezialisiert habe, bin ich dann oft sogar mehr als nah dran, weil sich die Menschen bei dieser Therapieform trauen - sozusagen im abgesicherten Modus -, in die Situation hineinzugehen und nicht nur einfach darüber zu reden. Das hilft in aller Regel eben weiter als das bloße Gespräch darüber. Auch sollte man wissen, dass es im Zusammenhang mit dieser Thematik eben nicht nur um den sexuellen Missbrauch geht, sondern um das Ausleben von Macht seitens der Täter. Leider kann ich in diesem Interview nicht noch näher auf die gesamte Problematik eingehen. Dennoch freue ich mich, dass dieses "heiße Eisen" heute von Ihnen und der SZ wieder angefasst wird. Wie dem auch sei, um auf Ihre letzte Frage in diesem Abschnitt einzugehen, kann ich sagen, dass ich gut ausgelastet bin.

Was zeigen Ihre Erfahrungen im Landkreis St. Wendel: Sind eher Kinder und Jugendliche oder Erwachsene betroffen?

von Kannen: Meine Patienten kommen nicht nur aus dem Landkreis St. Wendel, sondern aus dem gesamten Saarland, aus Rheinland-Pfalz und sogar von viel weiter her. Vielfach sind es jüngere Erwachsene, vorwiegend aber auch ältere Betroffene, die endlich ihr Problem lösen wollen, wie sie sagen. Und überwiegend sind es weibliche Patienten, die in meine Praxis kommen, hier vor allem im Zusammenhang mit Erfahrungen aus ihrer familiären Vergangenheit oder in Kindergärten, Schulen, Heimen, Jugendzentren, Beratungsstellen und sogar Krankenhäusern oder aber der Kirche, was nicht heißt, dass nun all diese Einrichtungen unter einen Generalverdacht fallen. Aber die letzten Jahre haben doch immer wieder gezeigt, dass die besonderen Umstände hier auch besondere Gelegenheiten geboten haben oder bieten. Es würde jetzt zu weit führen, im Speziellen darauf einzugehen. Generell denken die meisten Menschen übrigens, dass die Täter nur Männer sind, aber das stimmt so nicht, denn auch Frauen - Mütter - sind Täter.

Wie hat die Diskussion um den ehemaligen Freisener Pfarrer, der des sexuellen Missbrauchs beschuldigt wird, Ihre Arbeit beeinflusst oder verändert?

von Kannen: Gar nicht. Hier sind mir bislang viel zu wenige wirkliche Fakten bekannt, als dass ich mir überhaupt eine Einschätzung der Lage erlauben könnte. Aber auch, wenn ich diesen Überblick hätte, würde es mein Denken und Arbeiten wohl kaum beeinflussen.

Es wird wenig über die Opfer geschrieben. Weil sie nicht bekannt sind; oder weil sie geschützt werden sollen. Was denken Sie: Warum treten die Opfer in solchen Fällen nicht an die Öffentlichkeit?

von Kannen: Wenn wir davon ausgehen, dass 95 Prozent aller Betroffenen ihre Peiniger gar nicht erst anzeigen, müssen wir einfach feststellen, dass wir auch heute immer noch nur die Spitze des Eisbergs anschauen. Wenn die Opfer sich öffnen, stoßen sie leider allzu oft auf Ablehnung in unserer Gesellschaft. Es hat sich ja wirklich schon Vieles getan, aber es handelt sich doch immer noch um ein Tabuthema. Und die Konfrontation mit der Tatsache, dass der Missbrauch eben nicht nur die Vergewaltigung durch einen Fremden darstellt, sondern so oft im Kreis der Familie vorkommt, ruft nach wie vor bei vielen von uns eine heftige Abwehr- und Ungläubigkeitsreaktion aus. Wen wundert es da, wenn die Opfer letztlich den Mund halten und weiter schweigen.

Manchmal kommt es erst Jahre später zu einer Anzeige. Wie erklären Sie sich das?

von Kannen: Zunächst schweigen die Opfer, weil sie das mit dem Missbrauch verbundene Gefühl niemals mehr im Bewusstsein haben möchten. Auch die massive Angst vor Schuldzuweisungen hindern an der Anzeige. Vor Gericht ist das Opfer dann zunächst einmal ein Lügner. Da der Missbrauch ja zumeist hinter verschlossenen Türen stattfindet und niemand anderes - also ein möglicher Zeuge - zugegen ist, fällt die Beweisführung sehr schwer. Es mutet oft an wie ein Spießrutenlaufen. "Du hast so lange den Mund gehalten, dann halt jetzt auch die Klappe", so der Kommentar von Außenstehenden. Das alles ermutigt nicht gerade zur Aussage. Und polizeiliche Befragungen, heute gottlob meist von geschulten Beamten durchgeführt, gehen verdammt ins Detail, gerade weil der Nachweis des Missbrauchs so ein großes Problem darstellt. Und somit sind Prozesse, wenn es denn dazu kommt, meist reine Indizienprozesse, bei denen die Peiniger eben nicht hinter Gitter landen. Die bekommen ihr Leben also früher wieder zurück als die Opfer selbst. Und wenn die Opfer nach Jahren endlich den Mund aufmachen, greift zudem auch noch die Verjährungsfrist.

Wenn Sie an Ihre Gespräche mit Opfern denken: Was belastet diese am meisten?

von Kannen: Einmal werden Taten, bedingt durch einen Schutzmechanismus, oft verdrängt oder sogar vergessen. Durch das anfängliche Verdrängen bewirkt, stellt sich dann im Laufe der Zeit bei vielen Betroffenen die Frage, ob das alles auch tatsächlich so war. Sie beginnen, an sich selbst zu zweifeln. Ein Teufelskreislauf beginnt, aus dem kein Entrinnen möglich scheint. Dennoch: Der Körper vergisst nichts. Schock, Scham, Angst, Wut, Ekel und geruchsbedingte Erinnerungen sind immer wieder auch nach außen sichtbare und spürbare Folgen, die dieser Körper in einer Art Stellvertreterkrieg ertragen muss. Nicht wirklich erklärbare Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Waschzwang, Ritzen und Schneiden, Nähe-Distanz-Probleme, Depression und Suizidgedanken begleiten die Opfer oft ihr Leben lang. Wir reden in diesem Zusammenhang auch von PTBS - Posttraumatischen Belastungsstörungen - oder von Borderline-Störungen - Persönlichkeitsstörungen -, welche viele Betroffene jahrelang im Nachgang der Erlebnisse mit sich tragen. Und überaus belastend ist nicht zuletzt die Tatsache, dass der oder die Täter zumeist sehr Nahestehende sind oder waren.

Wie kann man ihnen helfen?

von Kannen: Wichtig ist es sicherlich, schon sehr früh den Kindern mitzuteilen, dass sie sich öffnen dürfen, dass sie das Gefühl bekommen, man hört und versteht ihre Sorgen und Nöte. Vor allem Eltern und Erzieher müssen hinschauen und hinhören. Und wenn ein Verdacht besteht, dann sollten schnellstmöglich auch entsprechende Beratungsstellen aufgesucht werden. Ich habe dabei unter anderem sehr gute Erfahrungen gemacht mit einem Internet-Forum namens Lichtweg.de. Hier wird all denen ein wirklich umfangreiches Hilfsangebot gemacht, die in ihrem Leben sexuelle Übergriffe erfahren haben oder aber mit Menschen zusammenleben, die dies erlebt haben. Hier gibt es Therapeuten und Rechtsanwälte, die persönlich, telefonisch und auch online Infos und Gespräche anbieten. Dabei werden therapeutische Wege aufgezeigt. Bei Bedarf werden Betroffene bei der Täteranzeige und einer Verhandlung sogar begleitet. Und nicht zuletzt sind meine Kollegen und ich ja auch noch da.

Gerade Kindern wird oft nicht geglaubt, wenn sie von ihren Erlebnissen erzählen. Warum ist das gerade bei einem solch ernsten Thema so? Und wie stark belastet die Kinder dieser Vertrauensverlust?

von Kannen: Urvertrauen - existenziell für jeden von uns - und das Gefühl von Sicherheit sind abhandengekommen, findet doch der sexuelle Missbrauch ganz oft im engsten Familienkreis statt. Und so ist er auch meist eines der bestgehüteten Familiengeheimnisse. Es kann und darf doch nicht sein, dass so was mitten unter uns geschieht. Wir wissen aber heute, dass sich dieser Missbrauch sogar häufig in ein- und derselben Familie über Generationen hinweg festsetzt. Folgen sind Verdrängen und Flucht in eine Parallelwelt. Wir gehen davon aus, dass 50 Prozent der Opfer ihr ganzes Leben nie mehr über die Tat sprechen. Und wenn die Kinder es dann doch tun, tun sie es zumeist in einer Art Bildersprache, die nicht jeder versteht. Auch die empfundene Scham spielt eine große Rolle. Hinzu kommt dann noch die Angst vor dem Täter oder den Tätern sowie die Angst, als Lügner abgestempelt zu werden. Schnell steht auch die Aussage im Raum, dass Kinder eh dazu neigen zu fantasieren.

Unverständnis oder auch der gute Ruf seitens der Eltern oder anderer Bezugspersonen lässt Kinder stumm werden und oft genug bleiben.

Die Fragen stellte Melanie Mai

Zum Thema:

Wann spricht man von sexuellem Missbrauch? Sexueller Missbrauch wird definiert als die Inanspruchnahme von abhängigen, entwicklungsmäßig unreifen Kindern und Adoleszenten für sexuelle Handlungen, die sie nicht gänzlich verstehen, in die einzuwilligen sie in dem Sinne außerstande sind, dass sie nicht die Fähigkeit haben, Umfang und Bedeutung der Einwilligung zu erkennen, oder die sozialen Tabus von Familienrollen verletzen. Sie schließt Pädophilie (Vorliebe eines Erwachsenen für sexuelle Beziehungen zu Kindern oder die Neigung eines Erwachsenen dazu) Notzucht und Inzest ein (Quelle: Senatsverwaltung Berlin).

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