Wie der Lippenstift zum Allesmüsser wurde

Er ist ein Wirtschaftsindikator, zweifellos ein Verführungskünstler und sogar ein Museumsstück. 130 Jahre hat der Lippenstift nun schon auf der Kappe. Und in diesen Jahren hat er sämtliche Modeerscheinungen mitgemacht, hart gegen seinen Ruf als Hurenutensil gekämpft und es schließlich vom teuren "Würstchen" zum unverzichtbaren Beiwerk jeder Leinwandikone geschafft

Er ist ein Wirtschaftsindikator, zweifellos ein Verführungskünstler und sogar ein Museumsstück. 130 Jahre hat der Lippenstift nun schon auf der Kappe. Und in diesen Jahren hat er sämtliche Modeerscheinungen mitgemacht, hart gegen seinen Ruf als Hurenutensil gekämpft und es schließlich vom teuren "Würstchen" zum unverzichtbaren Beiwerk jeder Leinwandikone geschafft. Und zum Handtaschenbegleiter der Durchschnittsfrau.

Dabei war das Ergebnis, das er in seinen frühen Kinderjahren auf die Lippen zauberte, weitaus appetitlicher als er selbst. Eine Art von Wachsmalstift, bestand er aus Hirschtalg, Bienenwachs und Rizinusöl. "Saucisse" (Wurst) war der wenig schmeichelhafte Beiname für den Rhodopis-Serviteur, als ihn zwei Pariser Parfümeure 1883 zur Weltausstellung in Amsterdam vorstellten. Nur in Seidenpapier eingepackt, musste er jedes Mal ein- oder ausgewickelt werden. Die Theaterschauspielerin Sarah Bernhardt hat das damals noch horrend teure Utensil nicht nur bühnenfähig gemacht. "Stylo d'amour" soll es die Französin genannt haben. Ungeheuer mutig, findet Visagist René Koch, der 2008 in Berlin ein Lippenstiftmuseum eröffnet hat. Der Kosmetikexperte schreibt dem Farbwinzling, der ohne Verpackung nur drei bis fünf Gramm wiegt, einen Beitrag bei der Emanzipation zu. "Damals war es wichtig zu provozieren, auch weil die Frau kaum Rechte hatte", erklärt er. Schließlich seien die Frauenrechtlerinnen mit roten Lippen auf die Straße gegangen.

Doch schon in der Antike bemalten sich Frauen die Lippen. Der älteste Fund stammt von 3500 vor Christus aus der sumerischen Stadt Ur. Und die altägyptische Königin Nofretete schminkte nicht nur ihre Augen, sondern auch die Lippen. Auch in Japan wurden die Lippen schon vor Jahrhunderten mit einer Mischung aus Honig, Wachs und Pigmenten betont. Unumstritten war das Lippenfärben aber nie: 1860 verbot Königin Victoria Make-up am Hofe. Vielleicht lag das auch an den Läusen. Denn der rote Farbstoff wurde aus Cochenille-Läusen gewonnen. "Sie wurden getrocknet und zerdrückt, waren aber vielleicht nicht so giftig wie einige Farbstoffe", erzählt Koch. Diese künstlichen Farbstoffe kamen um 1900, aber aus was besteht der Lippenstift heute? Mit 60 Prozent hauptsächlich aus Wachs, das Konsistenz gibt, zu 25 bis 30 Prozent aus Ölen, die pflegen sollen. Farbpigmente hat er zwischen einem und zehn Prozent, je nach Intensität, erläutert das deutsche Kosmetikunternehmen Babor für einen seiner Lippenstifte. Unter einem Prozent liegt Parfüm, Silikone können - soll Farbe lange halten - zwei bis fünf Prozent ausmachen.

Viel zu verdanken hat der Lippenstift dem in den 20er Jahren aufkommenden Stummfilm: Die Schauspielerinnen tragen Bubikopf, der Teint ist weiß gepudert, der Bienenstich-Mund in Brombeer- oder Granatrot geschminkt. Bei bürgerlichen Frauen war der Lippenstift, der als Luxusobjekt gilt, aber noch zu verrucht. Doch die Wirtschaft hatte Potenzial gewittert: Während Europa sich noch mit Schiebelippenstift anmalte, meldete James Bruce Mason 1923 in den USA das Patent für eine Drehmechanik an, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg durchsetzen sollte. Unterdessen wurden die Leinwandlippen von Jean Harlow, Marlene Dietrich und Zarah Leander in helleren Rottönen geschminkt. Nach dem Krieg entdeckt man die Farbe Fuchsia, Dior-Rot wird Mode und Hildegard Knef macht Werbung für den Volkslippenstift aus der DDR. Dieser VL kostet 1,50 Mark, Lippenstift mit Drehmechanik wird erschwinglich und damit zum Alltagsobjekt. Ein Objekt, das die Knef dem Visagisten Koch schenkte, begründete dessen Lippenstiftsammlung mit.

Lippenstift in Pastelltönen wie Rosa und Pfirsich und mit Perlmuttschimmer gibt es seit den 50er und 60er Jahren. Ab Mitte der 60er kommen transparente Farben auf, in den 70er Jahren trägt die Punk-Bewegung schwarze Lippen. Matte Naturtöne in Sand- und Beigetönen und das Lipgloss machen den Nude-Stil der 90er Jahre aus, geschminkt ungeschminkt auszusehen, ist das Motto. Wieder neue Modeerscheinungen werden seit dem Jahrtausendwechsel von einigen Prominenten mitgemacht. Auf Botoxlippen wird die Lippenkontur mit Permanent-Make-up tätowiert und wasserfest gemacht. Für die Frauen der Masse verspricht die Industrie Lippenstifte mit Hautalterungsschutz und Aufpolsterungseffekt. Heute wird vom einstigen Liebesstift der Künstlerinnen viel erwartet: Farbe soll lange halten, Inhaltsstoffe pflegen. Der Lippenstift, weltweit 23-mal pro Sekunde verkauft, muss ein Alleskönner sein.

"Heute ist Rot die am häufigsten getragene Lippenstiftfarbe", sagt Martin Ruppmann, Geschäftsführer beim Verband der Vertriebsfirmen Kosmetischer Erzeugnisse (VKE). René Koch erklärt: "Rot ja, aber zarte Töne wie Koralle oder Rosenholz." Für Kirschrot seien viele deutsche Frauen nicht mutig genug. Nach VKE-Angaben verwenden 78 Prozent der Frauen überhaupt Lippenstift, 45 Prozent regelmäßig. Anlässe sind Feste, Hochzeiten, Jubiläen oder Ausgehen. Nur Mascara wird häufiger benutzt.

Der Lippenstift scheint nicht vom Lipgloss verdrängt zu werden: Während Lippenstifte einen Anteil von 13 Prozent am Segment der dekorativen Kosmetik haben, macht Lipgloss nur knappe vier Prozent aus. Der Umsatz für Lippenstift machte im November 2012 44,5 Millionen Euro aus, ein Prozent mehr als im Vorjahr. Der Verkauf von Lippenstift gilt als Wirtschaftsindikator: In Krisenzeiten steigt der Verkauf. Psychologische Studien behaupten, Frauen wollten für reiche Männer attraktiver sein. "Ein neuer Lippenstift kostet weniger als eine neue Bluse", formuliert es René Koch.

lippenstiftmuseum.de

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