Was geschah wirklich in jener Mainacht?Warum zwei Kinder seit Jahren ihre Mutter nicht sehen dürfen

Völklingen. Murat und Yasemin T. können sich kaum noch an ihre Mutter erinnern. Seit dem 1. Mai 2000 haben die Geschwister sie nicht mehr gesehen. Ein Feuer zerstört an jenem frühen Morgen ihr Elternhaus in Völklingen, macht Mutter Fatma zum Pflegefall und verletzt die Kinder selbst lebensgefährlich

 Poststraße in Völklingen, 1. Mai 2000: Gegen 2.45 Uhr sind die Flammen besiegt. Die Tür des Hauses habe Tag und Nacht offen gestanden, erzählt eine Nachbarin. Foto: Becker&Bredel

Poststraße in Völklingen, 1. Mai 2000: Gegen 2.45 Uhr sind die Flammen besiegt. Die Tür des Hauses habe Tag und Nacht offen gestanden, erzählt eine Nachbarin. Foto: Becker&Bredel

Völklingen. Murat und Yasemin T. können sich kaum noch an ihre Mutter erinnern. Seit dem 1. Mai 2000 haben die Geschwister sie nicht mehr gesehen. Ein Feuer zerstört an jenem frühen Morgen ihr Elternhaus in Völklingen, macht Mutter Fatma zum Pflegefall und verletzt die Kinder selbst lebensgefährlich. Murat und Yasemin, damals zehn und vier Jahre alt, kommen bei Verwandten in der Türkei unter. Warum es in ihrem Haus gebrannt hat, wissen die beiden bis heute nicht.Auch der Saarbrücker Rechtsanwalt Hans Lafontaine kennt den Grund nicht. Aber er glaubt nicht an die offizielle These eines Defektes in der Elektrik des Hauses, sondern geht von Brandstiftung mit fremdenfeindlichem Hintergrund aus. Seit mittlerweile zwölf Jahren versucht er, entsprechende Ermittlungen in Gang zu bringen. Und hat gerade eine erneute Abfuhr erhalten: "Die Generalstaatsanwaltschaft hat mir mitgeteilt, dass die Befragung einer von mir genannten Zeugin keine neuen Ermittlungsansätze ergeben habe", sagt Lafontaine. Frau D. hatte zum Zeitpunkt des Brandes in dem Mehrfamilienhaus mit den T.'s gewohnt. Sie will am Abend vor der Brandnacht einen Mann gesehen haben, der das Haus beobachtete.

Die Absage der Generalstaatsanwaltschaft an Lafontaine bedeutet auch: Die Sonderermittlungsgruppe "GEG Komplex", die derzeit Brandstiftungen in Völklingen zwischen 2006 und 2012 auf fremdenfeindliche Hintergründe prüft, wird sich mit diesem Fall wohl nicht weiter beschäftigen. Doch es bleiben Ungereimtheiten.

Rückblick: Am 6. April 2000 läuft ein Beitrag im SR-Fernsehen über die geplante und in letzter Sekunde vorläufig gestoppte Abschiebung von Fatma T. Darin ist auch für mehrere Sekunden die genaue Anschrift der Familie T. auf einer Akte zu erkennen. Drei Wochen später - in der Hexennacht vom 30. April auf den 1. Mai 2000, gegen 1.30 Uhr - brennt das Haus, in dem neben den T.'s weitere Migrantenfamilien wohnen. Zufall oder ein Hinweis auf Brandstiftung, wie Lafontaine vermutet? Acht Menschen werden zum Teil schwer verletzt, wie durch ein Wunder kommt niemand ums Leben. Noch am 1. Mai teilt das Landeskriminalamt mit, ein Defekt in der Elektrik sei vermutlich Ursache gewesen, Brandstiftung jedenfalls "nach derzeitigem Ermittlungsstand" auszuschließen. Brandmittelspürhund "Al Capone" habe keine Fährte aufgenommen. Dennoch begehen Beamte die Brandruine am nächsten Tag ein zweites Mal. Mit dabei: Niyati T., der Ehemann von Fatma, der während des Brandes außer Haus war. Er erzählt, dass er mit den Beamten gestritten habe, weil er an der Elektrik keinen Schaden erkennen konnte.

Das LKA bleibt beim Elektroschaden. Insgesamt werden nur vier Zeugen zum Brand befragt - und dies auch erst nach Wochen. Letzte Zweifel soll ein Schadensgutachter ausräumen. Warum es in so einem dramatischen Fall über ein Jahr dauert, bis sein 13-seitiges Gutachten zu den Akten gelangt, ist unklar. Die Staatsanwaltschaft Saarbrücken stellt das Verfahren jedenfalls am 11. September 2000 - also noch bevor das Gutachten vorliegt - mangels Straftat ein. Als das Papier im Mai 2001 doch noch fertig ist, folgt die erneute Einstellung. Dabei wird darin die These vom Elektroschaden alles andere als gestützt. Mit "an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" sei das Feuer auf dem Treppenpodest des 1. Obergeschosses ausgebrochen, heißt es - also auf dem Podest, das zur Wohnung der Familie T. führt. Und weiter: "An den elektrischen Installationen in diesem Bereich waren keine Schäden feststellbar, die mit einem technischen Defekt zu verbinden gewesen wären". Immerhin wird eingeschränkt: Wegen der großen Zerstörung sei der Elektrodefekt "nicht zweifelsfrei" auszuschließen.

"Es muss mir mal einer erklären, wie man daraus einen Elektroschaden als Ursache ableiten kann", sagt Lafontaine. Bereits damals ist er empört über die Verfahrenseinstellung, liefert sich Briefwechsel mit der Staatsanwaltschaft, in denen er auf den Widerspruch aufmerksam macht. Er verweist auf einen Zeugen, dem eine junge Frau am Brandort aufgefallen ist, die plötzlich verschwunden war und bringt schließlich auch die Zeugin Frau D. ins Spiel.

Alles ohne Erfolg. Es vergehen Jahre. Als Lafontaine im Dezember 2011 von der Gründung der "GEG Komplex" erfährt, schreibt er an Generalbundesanwalt Harald Range, bittet ihn, sich des Falls anzunehmen, da er die Saarbrücker Staatsanwaltschaft für ungeeignet hält, eigene Versäumnisse aufzudecken. Range sieht sich nicht zuständig, verweist den Fall zurück nach Saarbrücken. Im Februar sagt Generalstaatsanwalt Ralf-Dieter Sahm, ihm dränge sich kein Zusammenhang zwischen Lafontaines Fall und den späteren Bränden auf. Eine Dienstaufsichtsbeschwerde Lafontaines gegen Sahm weist Ministerpräsidentin Kramp-Karrenbauer - bis vor Kurzem auch zuständig für Justiz - im März ab. Die Arbeit der Staatsanwaltschaft sei "nicht zu beanstanden". Auch der von Lafontaine angeschriebene Leiter des Rechtsterrorismus-Untersuchungsausschusses im Bundestag, Sebastian Edathy (SPD), wiegelt ab. Man sehe sich in erster Linie zuständig für Aufklärung rund um die NSU-Mordserie, so Edathy im März zur SZ.

Schließlich lässt Generalstaatsanwalt Sahm doch noch Frau D. zu dem Mann befragen, den sie vor der Brandnacht gesehen haben will. Doch D. kann ihn nicht genau beschreiben.

Die SZ sprach in den vergangenen Wochen mit vielen Zeugen der Brandnacht. An Details können sich die wenigsten heute noch erinnern. An einen Elektroschaden glaubt jedoch niemand von ihnen.

SR 3 Saarlandwelle sendet zu dem Fall am Sonntag, 12.35 Uhr, ein Feature mit dem Titel "Und dann war das ganze Leben weg".

Völklingen. 1981 zieht Großvater T. mit seiner Familie von einem kleinen Dorf in der Westtürkei ins Saarland, um als Grubenarbeiter zu Geld zu kommen. Mit dabei: Sohn Niyati, damals 13 Jahre alt. Die Familie bleibt in Kontakt zur Heimat. 1987 heiratet Niyati in der Türkei seine Frau Fatma, nimmt sie mit nach Deutschland. Das Paar wohnt in Völklingen, Niyati arbeitet als Monteur, Fatma ist Hausfrau. 1989 wird Sohn Murat, 1995 Tochter Yasemin geboren. 1998 der erste Schock: Fatmas Aufenthaltsgenehmigung wird nicht verlängert - wegen zu geringem Familieneinkommen. Die Mutter soll ohne Mann und kleine Kinder zurück in die Türkei abgeschoben werden. Zwei Jahre zieht sich der Rechtsstreit hin, bis der Europäische Gerichtshof am 6. April 2000 per Eilentscheidung die Abschiebung aussetzt. Wenige Wochen später, am 1. Mai, der Brand: Fatma und die Kinder erleiden schwere Verletzungen. Niyati, der mit Freunden in einer Kneipe sitzt, als das Feuer ausbricht, bleibt unverletzt, steht nun jedoch vor dem Nichts. Anders als die Kinder erholt sich seine Frau von der Rauchgasvergiftung und dem Sauerstoffverlust nicht mehr: Sie verliert ihr Gedächtnis, erkennt ihren eigenen Mann nicht mehr und wird als Pflegefall bis heute in einer Einrichtung betreut. Niyati weiß nicht, wie es weitergehen soll, ist überfordert, wohnungslos. Er entscheidet, die Kinder vorübergehend zu den Großeltern in die Türkei zu schicken. Doch das Drama geht weiter: Nach ein paar Monaten ist die Einreisefrist der Kinder nach Deutschland verstrichen. Murat und Yasemin dürfen nun nicht mehr in ihre Heimat.

 Yasemin und Murat drei Jahre vor dem Brand. Foto: privat

Yasemin und Murat drei Jahre vor dem Brand. Foto: privat

Seit Jahren versucht Niyati, mittlerweile unterstützt von seiner neuen Lebensgefährtin, Murat und Yasemin einen Besuch in Deutschland zu ermöglichen. Doch die Saarbrücker Ausländerbehörde blockt stets ab. Sie befürchtet, dass die Kinder nicht in die Türkei zurückkehren. Aktiv geworden ist stattdessen das saarländische Landesamt für Soziales. Ende 2011 geht ein Schreiben an Yasemin in die Türkei: Das Mädchen solle für den Unterhalt der Mutter im deutschen Pflegeheim aufkommen. Eine Kopie des Originalausweises, die der SZ vorliegt, zeigt: Yasemin ist nicht mal volljährig. Auf eine SR-Anfrage sagt ein Mitarbeiter des Amtes vor wenigen Wochen, ihm liege ein Dokument mit einem anderen Geburtsdatum vor. "Die Türken" machten ihre Kinder vor Behörden eben gerne älter, um mehr Unterhalt zu beziehen. Nach der Anfrage hat das Amt keine erneute Unterhaltsforderung in die Türkei gesandt, eine Einreiseerlaubnis haben Yasemin und Murat jedoch noch immer nicht. Seit über zwölf Jahren haben sie ihre Mutter nicht gesehen. jkl

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