Verrückt: Zahl auf Zahl auf Zahl

Alles auf dieser Welt ist endlich, es gibt endlich viele Teilnehmer am St. Wendeler Marathon, es gibt endlich viele Bewohner des Saarlandes, es gibt endlich viele Menschen, es gibt auch nur endlich viele Teilchen im Kosmos. Unendlichkeit kann nur gedacht werden, nicht erlebt

 Auch wenn man sie kaum zählen kann, die Menge dieser Läufer beim Marathon ist endlich. Foto: atb

Auch wenn man sie kaum zählen kann, die Menge dieser Läufer beim Marathon ist endlich. Foto: atb

Alles auf dieser Welt ist endlich, es gibt endlich viele Teilnehmer am St. Wendeler Marathon, es gibt endlich viele Bewohner des Saarlandes, es gibt endlich viele Menschen, es gibt auch nur endlich viele Teilchen im Kosmos. Unendlichkeit kann nur gedacht werden, nicht erlebt. Mathematiker beschäftigen sich seit mehr als hundert Jahren mit der Unendlichkeit, mit Ansammlungen ("Mengen") von unendlich vielen Objekten ("Elementen"). Die dabei gewonnenen Erkenntnisse stehen im krassen Widerspruch zur Alltagserfahrung. Das ist der Schrecken der Unendlichkeit.Der erste Mathematiker, der das Unendliche systematisch untersucht hat, war Georg Cantor. Er ist darüber schwermütig geworden, starb in der Psychiatrie. Also Vorsicht beim Umgang mit der Unendlichkeit.Kurz die Lebensdaten: Georg Cantor wurde 1845 in St. Petersburg geboren. Er studierte in Zürich und Göttingen Mathematik. Von 1869 an lebte und lehrte er in Halle, von 1877 bis zu seiner Emeritierung 1913, seiner Pensionierung also als ordentlicher Professor. Er starb 1918 in einem Sanatorium in Halle, in dem er auch seine letzten Jahre verbracht hatte. Cantor ist der Schöpfer der Mengenlehre, der Grundlage aller modernen Mathematik. Sein Interesse an der Unendlichkeit entstand durch das Studium von Zahlenmengen. Dem Studium von Zahlenmengen wie den natürlichen Zahlen: 1, 2, 3, 4,... Diese Menge heißt N. Oder dem Studium der Menge der ganzen Zahlen: ...., -3, -2, -1, 0, 1, 2, 3,.... Diese Menge heißt ZDiese Mengen sind unendlich; Cantors erste Frage, die er sich stellte: Wie kann man die Anzahl der beiden Mengen vergleichen? Zählen geht ja nicht, es sind ja jeweils unendlich viele Elemente.Dass dabei mit Überraschungen zu rechnen war, hat später David Hilbert, der bedeutendste Mathematiker in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in einer kleinen Episode dargestellt. Sie nennt sich Hilberts Hotel. Die Geschichte geht so: Ist ein normales Hotel vollbesetzt, so können keine Gäste mehr aufgenommen werden. Anders bei Hilberts Hotel: Es besitzt unendlich viele Zimmer, die ganz normal nummeriert sind: 1, 2, 3, 4, und so weiter. Das Hotel war vollbesetzt, alle Zimmer belegt. Da kommt eine französische Mathematikerdelegation an, mit 42 Teilnehmern. Sie begehren Unterkunft, der Portier verweist mit Bedauern darauf, dass alle Zimmer besetzt sind. Die gewitzten französischen Mathematiker wissen einen Ausweg: Sie schlagen vor, dass jeder Gast 42 Zimmer weiter rückt, also der Gast aus Zimmer 1 nach Zimmer 43, der aus Zimmer 2 nach 44 und so fort. Dann werden die ersten 42 Zimmer frei, die Franzosen können einziehen, alle Gäste sind untergebracht. Das funktioniert.Schließlich kommt eine chinesischen Delegation an. Jeder weiß, dass es unendlich viele Chinesen gibt, auch die Delegation hat unendlich viele Mitglieder. Der Chef der Gruppe bittet den Portier um Unterkunft. Dieser verweist mit Bedauern darauf, dass alle Zimmer besetzt sind. Auch der wunderbare Franzosentrick könne nicht klappen, da ja diesmal unendlich viele Gäste unterzubringen seien. Die Chinesen sind glänzende Mathematiker, sie wissen eine Lösung: Die schon beherbergten Gäste müssen wieder umziehen, jeder Gast geht in das Zimmer mit der doppelten Nummer, also der aus Zimmer eins nach zwei, der aus zwei nach vier, der aus drei nach sechs. Dadurch werden die Zimmer 1, 3, 5, 7 und so weiter frei, also die unendlich vielen mit den ungeraden Nummern. Die Chinesen können übernachten, sind alles untergebracht. Das nennt man die Absurdität des Unendlichen.Zurück aber zu Cantors erster Frage: Wie kann man unendliche Mengen vergleichen, wie kann man ohne Zählen feststellen, dass zwei Mengen gleich viele Objekte enthalten? Cantors geniale Idee: Zwei Mengen haben gleich viele Elemente, wenn es eine bijektive Abbildung zwischen ihnen gibt. Sie verstehen dies nicht, Sie wissen nicht, was eine bijektive Abbildung ist? Die Idee ist ganz einfach, wir erklären sie mit der folgenden Geschichte: Auf einer kleinen Südseeinsel war die Welt noch in Ordnung, heil, so wie sich das zum Beispiel der amerikanische Präsident vorstellt oder auch der polnische Präsident: Also nur Heteros, nur Monogamie. Der Häuptling der Insel, ein guter Chef, besorgt um das Wohl seiner Schäfchen, wollte feststellen, ob es auf seiner Insel ebenso viele Frauen wie Männer gibt. Er konnte nicht bis drei zählen, aber er war klug. Eines Morgens rief er die Männer seines Reichs zusammen und bat sie, sich in einer Reihe am Strand aufzustellen. Dann rief er die Frauen. Jede Frau sollte sich zu einem Mann stellen, so ähnlich wie in der Tanzstunde, es musste nicht der eigene Mann sein. Wenn das aufgeht, gibt es ebenso viele Frauen wie Männer. Die Paarbildung ist eine bijektive Abbildung: Zu jedem Mann gehört eine Frau und umgekehrt. Ganz einfach.Man kann also sagen: Zwei Mengen haben gleich viele Elemente, wenn die Häuptlingsmethode klappt. Das versteht jeder. Dies war Cantors erster Schritt in das Reich der Unendlichkeit. Mit diesen bijektiven Abbildungen, mit dieser Häuptlingsmethode konnte er ein erstes erstaunliches Ergebnis beweisen:Es gibt ebenso viele natürliche Zahlen wie ganze Zahlen. Also: Die Zahlenmenge Z, das sind die Zahlen 1, 2, 3,... und die negativen Zahlen -1, -2, -3,... und dazu noch die 0 sind nicht mehr als die Zahlen von N: 1, 2, 3,...., also nur die positiven Zahlen. Verstehe das, wer kann! Mit solchen Aussagen gewinnt man keine Freunde. Die Anzahl der ganzen Zahlen (Z) (positive und negative ganze Zahlen plus 0) ist doch ganz klar gleich zwei Mal der Anzahl von N (nur positive ganze Zahlen). Mit der unbestechlichen Häuptlingsmethode wies Cantor aber folgendes nach. Der Zahl 1 aus der Menge N ordnet er die 0 aus der Menge Z zu, der 2 die -1, der 3 die 1, der 4 die -2, der 5 die 2, der 6 die -3, der 7 die 3, der 8 die -4 und so geht es unendlich weiter, weil es unendlich viele Zahlen gibt. Cantor nannte die Anzahl der natürlichen Zahlen Aleph 0. Aleph ist der erste Buchstabe des hebräischen Alphabets. Aleph ist der erste Schritt in die Unendlichkeit. Er behauptet also: Aleph + 1 = Aleph. Das ist absurd. Aber dennoch mathematisch bewiesen. Schrecken der Unendlichkeit!In vier Wochen werden wir Cantors Weg weiter verfolgen. Sie werden dann verstehen, warum er und weitere Mitstreiter in tiefer Verzweiflung, in geistiger Umnachtung endeten.Dennoch: Cantors Wirken war eine Offenbarung. Der schon zitierte Hilbert hat später formuliert: "Aus dem Paradies, das Cantor uns geschaffen, soll uns niemand vertreiben können."

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