Zusammen in eine neue Zukunft

St Wendel · Es ist schon eine besondere Wohngemeinschaft, die acht junge Afghanen und ein Jugendlicher aus Eritrea nun ihr Zuhause nennen. Mit einem Betreuer-Team der Stiftung Hospital bauen sich die Flüchtlinge einen Alltag auf. Es war ein langer Weg für sie – hin zu einem Leben in Sicherheit.

Er saß auf der Rückbank eines Autos, das sich seinen Weg durch den Verkehr in Afghanistan bahnte. Plötzlich ein lauter Knall, eine Autobombe explodierte. Er hörte ein Pfeifen auf dem Ohr. Die Menschen vor ihm wurden nur noch von den Gurten in den Sitzen gehalten. Überall waren Blut und Glasscherben. Vorsichtig öffnete er die Wagentür und stieg über Leichenteile hinweg. Momente, die er niemals vergessen wird.

Die Sonne scheint. Saleh Jafari, Walid Alizadah und Mahdi Hassani stehen vor dem dreigeschossigen Haus und lächeln. "Guten Tag" sagen sie freundlich und begrüßen die Gäste per Handschlag. Dann führen sie sie in ihr neues Zuhause, die Wohngemeinschaft (WG) der "unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge " der Stiftung Hospital in St. Wendel . Seit knapp einem Jahr gibt es die Flüchtlings-WG. "Wir hatten die Immobilie und auch die ausgebildeten Mitarbeiter", sagt Dirk Schmitt, Direktor der Stiftung Hospital. Es sei ein Ziel der gemeinnützigen Einrichtung, Jugendliche in schwierigen Lebenssituationen zu helfen - das gelte für deutsche ebenso wie für ausländische Jugendliche. Acht junge Menschen aus Afghanistan und ein Jugendlicher aus Eritrea leben in St. Wendel zusammen. Sie sind zwischen 14 und 18 Jahren alt. Zugeteilt wurden sie dem Projekt der Stiftung Hospital vom Clearinghaus (erste Auffangstelle) in Völklingen.

Die multikulturelle WG, in der Moslems und Christen zusammenwohnen, bringt für das betreuende Team, das aus einem Sozialarbeiter, einem Sozialwissenschaftler, einem Erzieher, einer Erzieherin und zwei Praktikanten besteht, einige Herausforderungen mit sich. Es gelte zu vermitteln, wie die Gemeinschaft in Deutschland funktioniert, welche Regeln es gibt oder aber auch, wie sich die Jugendlichen Frauen gegenüber verhalten sollen. So umreißt Sozialarbeiter Uwe Wagner knapp die Anforderungen ans Team. Dieses hilft auch bei ganz alltäglichen Dingen wie den Hausaufgaben oder dem Gang zum Arzt.

Ziel: Schulabschluss

Normalität und Halt geben - darum geht es bei der Flüchtlings-WG. "Sie leben in einem normalen Wohnhaus wie in einer normalen Familie", sagt Schmitt. Im Erdgeschoss sind Wohnzimmer, Esszimmer und die Küche untergebracht. Jeder der Jungs habe mal Küchendienst, berichtet Wagner. Und am Wochenende werde gemeinsam gekocht. Im zweiten und dritten Stock sind die Zimmer der neun Jugendlichen. Jeder hat hier sein eigenes kleines Reich mit Schrank, Bett und Schreibtisch. Für die Deko sorgt Saleh Jafari selbst. Der 18-jährige Afghane ist handwerklich sehr begabt, hat beispielsweise einen CD-Ständer aus Holz gebastelt. Schreiner oder Tischler ist sein Berufswunsch. "Aber zuerst möchte ich den Schulabschluss machen."

Bereits Freunde gefunden

Das ist auch das Ziel der Afghanen Walid Alizadah und Mahdi Hassani. "Sie gehen gerne zur Schule, sind wild auf Bildung, fleißig und wissbegierig", sagt Jutta Kämmler, Projektleiterin im Bereich Jugendhilfe . Mahdi, ein Ass in Sachen Naturwissenschaften, habe die Chance, mehr als nur den Hauptschulabschluss zu schaffen. Und so hat sich der 18-Jährige auch ein ehrgeiziges Berufsziel gesteckt: Architekt.

Auch sportlich sind die Jungs aktiv. Mahdi spielt beispielsweise Fußball im Verein in Winterbach, und manchmal träumt er auch von einer Karriere als Fußballprofi. "Zunächst beim FC Kaiserslautern. Das ist eine gute Mannschaft", sagt Madhi. Als er das erste Mal von St. Wendel hörte, dachte er, es sei eine große Stadt. "Aber es ist eine kleine Stadt, aber schön", findet der 18-Jährige, der seit einem Jahr in Deutschland ist. "Ich bin beliebt hier. Mein Spitzname ist Madhi beliebt", sagt er und lächelt verschmitzt. Auch der 17-jährige Walid Alizadah strahlt, als er in gutem Deutsch berichtet, dass er schon viele Freunde hier gefunden hat. "Wir besuchen einander." Er fühlt sich sichtlich wohl, obwohl er ab und zu auf der Straße als Kanake beschimpft werde. Aber darauf reagiere er nicht. Es verliert an Bedeutung. Denn: "In meinem Land ist jeden Tag Krieg, in Deutschland nicht", sagt Walid.

Um hierher zu kommen, haben die jungen Menschen einiges auf sich genommen. Es war ein harter, gefährlicher Weg. "11 000 Kilometer sind es von Kabul bis ins Saarland", sagt Mahdi. Diese Strecke habe er zu Fuß, mit dem Auto, dem Laster, dem Schiff und dem Zug zurückgelegt. Alleine. Sechs Monate lang unterwegs. In ständiger Angst. Von Kabul bis Teheran (Luftlinie mehr als 1600 Kilometer) ist er gelaufen. Unter einem Laster kauernd ging es in Griechenland auf ein Schiff nach Italien. "Trotz alledem sind es lebensfrohe junge Menschen, die fürsorglich uns gegenüber sind", sagt Sozialarbeiter Wagner. Die Betreuer kennen die Geschichten der Flucht ihrer Schützlinge, wissen um das, was in ihrer einstigen Heimat geschehen ist. "Alle haben traumatische Situationen erlebt", erklärt Kämmler. "Ob sich das als Trauma festsetzt und therapiert werden muss, ist unterschiedlich." Das Betreuer-Team ist in Sachen Traumapädagogik ausgebildet. Diese beinhaltet beispielsweise das Schaffen eines sicheren Ortes. Die Jugendlichen können ihre Zimmer absperren, und auch nachts ist ein Betreuer im Haus.

Auch wenn die Flüchtlinge weit weg von Afghanistan und Eritrea sind, verfolgen sie laut Wagner die Entwicklung. Schauen sich Videos von der Zerstörung an. Teilweise bestehe Kontakt zu den Familien, teilweise sind die Jugendlichen in großer Sorge. Einige haben mit angesehen, wie Familienmitglieder getötet wurden.

Ein Windzug und irgendwo im Haus knallt eine Tür. Unweigerlich zuckt er zusammen. Für einen kurzen Augenblick ist er wieder in Afghanistan. Doch er ist nicht alleine. Die Betreuer sind da, führen ihn in Gedanken weg von dem Horrorszenario hin zu einem hellen Ort, an dem die Sonne scheint. Seit einem Jahr leben neun minderjährige Flüchtlinge aus Afghanistan und Eritrea in einer Wohngemeinschaft (WG) der St. Wendeler Stiftung Hospital. Die Jugendlichen kamen quasi mit nichts in ein fremdes Land. "Wir haben erst einmal Kleider gekauft. Das waren 300 bis 450 Euro pro Person", erinnert sich Sozialarbeiter Uwe Wagner an die Ankunft der Teenager. Mit drei Kollegen betreut er die 14- bis 18-Jährigen. Finanziert wird die Flüchtlings-WG nach dem landesweit üblichen Pflegesatz für stationäre jugendliche Wohngruppen. Dieser beträgt 150 Euro pro Tag und wird über die Jugendämter ausgezahlt. Nach Ansicht Dirk Schmitts, Leiter der Stiftung Hospital, ist die WG in vielerlei Hinsicht mit besonderen Herausforderungen verbunden: die Heranwachsenden, die wissbegierig und aktiv sind, brauchen mehr Verpflegung als Jüngere. Auch der Betreuungsaufwand sei oft größer, da die Jugendlichen beispielsweise bei Ärzte- oder Behördengängen begleitet werden. Wie in einer regulären Wohngruppe üblich, sind 4,5 Mitarbeiter dafür eingeplant. "Aber eigentlich bräuchten wir bei den Flüchtlingen mehr Fachkräfte", so Schmitt. Sein Wunsch wäre es, dass die Problematik jugendliche Flüchtlinge getrennt von regulären Wohngruppen betrachtet und der Pflegesatz neu berechnet würde.

"Viele der Jugendlichen werden 18. Es ist unklar, ob betreutes Wohnen genehmigt wird und ob das finanziell möglich ist", weist Jutta Kämmler, Projektleiterin im Bereich Jugendhilfe , auf ein Problem hin. Die jungen Menschen wollen gerne in St. Wendel bleiben. Doch erst müssten günstige Wohnungen gefunden werden.

In der WG selbst fehlen noch alltägliche Sachen: Kleidung, Teppiche oder Dekoration. Uwe Wagner ist zudem auf der Suche nach Fahrrädern, denn er würde gerne eine Tour mit den Jugendlichen unternehmen. "Ich würde gerne öfter ins Kino gehen", sagt der 17-jährige Walid Alizadah. Doch es fehle Geld. Die Jungen seien sehr sparsam, weiß Kämmler.

Und das aus gutem Grund. "Einige haben Kontakt mit ihren Familien, die in finanzieller Not sind", sagt Uwe Wagner. Diese üben Druck auf die jungen Männer aus: Sie sollen sich Arbeit suchen und Geld schicken.

Wer die WG der jungen Flüchtlinge mit Geld- oder Sachspenden oder ehrenamtlichem Engagement wie Nachhilfe unterstützen möchte, kann sich mit der Stiftung Hospital in Verbindung setzen.

Kontakt zur Stiftung:

Tel. (0 68 51) 8 90 81 11

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