Auf der Suche nach besserem Leben

Oberthal · Einen spannenden Vortrag über die historischen Wander- bewegungen im St. Wendeler Land hielt Roland Geiger in Oberthal.

 Mehr als 60 Zuhörer interessierten sich für den Vortrag der Reihe über Entwicklungen der vergangenen 500 Jahre im St. Wendeler Land. Fotos: Eva Henn

Mehr als 60 Zuhörer interessierten sich für den Vortrag der Reihe über Entwicklungen der vergangenen 500 Jahre im St. Wendeler Land. Fotos: Eva Henn

"Planet der Nomaden" - so überschrieb der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel einen Aufsatz, der überarbeitet 2006 als Buch veröffentlicht wurde. Darin bezeichnet er Migration, also die "freiwillige oder erzwungene Ortsveränderung", als Massenphänomen, als eine Konstante der Geschichte. Der Mensch war immer in Bewegung, zu allen Zeiten, überall. Somit auch im St. Wendeler Land. Insbesondere in der Neuzeit. Daher nahm Roland Geiger eben diese neuzeitliche Migration in der Region in einem Vortrag genauer unter die Lupe. Dies war der vierte Teil einer Vortragsreihe, die sich mit den Entwicklungen der vergangenen 500 Jahre im St. Wendeler Land beschäftigt.

"Migration, Wanderungsbewegungen - das ist ein umfangreiches Thema, daher beschränke ich mich vor allem auf das 18. und 19. Jahrhundert, auf Auswanderungen in das europäische Ausland und nach Übersee", eröffnete Geiger seinen Vortrag vor mehr als 60 Zuhörern im Oberthaler Rathaus.

Migration - das sind vor allem Einzelschicksale, das sind Geschichten vom Erfolg und vom Scheitern, von Mühe und Not, von Auf- und Abstieg. Wie etwa bei Carl Nikolaus Riotte, 1814 in St. Wendel geboren, Jurist, Vorstandsmitglied einer Eisenbahnlinie in Elberfeld, der nach 1848 in Amerika eine neue Heimat fand. Dort, unter Abraham Lincoln, Botschafter in Costa Rica wurde, 1873 nach Europa zurückkehrte, 1887 in der Schweiz starb.

Oder bei den Auswanderern aus St. Wendel, aus Oberlinx-, Ur- und Baltersweiler, aus Alsweiler und Tholey, die sich seit 1830 in der Nähe von Dansville, im Bundesstaat New York, niederließen. Geiger: "Eine Cholera-Epidemie löschte die kleine Siedlung fast ganz aus, die Überlebenden zogen in einen kleinen Ort namens Perkinsville. Bis kurz nach 1900 wurde dort fast ausschließlich Deutsch gesprochen." 1896 wandte sich Alois Huber, Pfarrer der katholischen Pfarrei in Perkinsville, an den Trierer Bischof. Sein Wunsch: ein Partikel der Wendalinus-Reliquie aus St. Wendel. Der Wunsch wurde gewährt. Das Stückchen der Reliquie wird bis heute in Perkinsville aufbewahrt.

Menschen aus der Region zogen jedoch nicht nur nach Westen, über den großen Teich, sondern auch nach Osten, etwa nach Russisch-Polen. "Damit ist nicht das heutige Polen gemeint, sondern das Gebiet östlich der Weichsel. Es war mit dem russischen Zarenreich unioniert und wurde von diesem verwaltet", erläuterte Geiger. Schon 1816 machten sich mehr als 87 Familien aus 21 Orten der Region auf den Weg dorthin, auf der Suche nach einem besseren Leben. Nicht alle erreichten aber das Ziel. Jacob Schubmehl aus Urweiler kam etwa nur bis nach Frankfurt, dann "habe ihm vor der Reise gegraut", wie er angab. Geiger: "Ich schätze, dass gut zwei Drittel der Reisenden umkehrten." Auch, weil sie auf ihrem Wege auf andere Migranten trafen, die von schlechten Erfahrungen in Russisch-Polen berichteten.

Jene, die aus der Region nach Russisch-Polen auswandern wollten, mussten dies bei der Regierung beantragen. Diese hatte wenig Interesse daran, Untertanen zu verlieren. In St. Wendel war Oberbürgermeister Carl Cetto für die Abwicklung der Anträge zuständig. Er hatte keine allzu hohe Meinung von jenen, die die Anträge stellten. Über Johann Heinz aus Urweiler vermerkte er etwa: "Ein Säufer und nachläsiger Mensch, der mit mehr Fleis und Ordnungsliebe sich sehr gut hätte ernähren können." Ein weiterer sei "von jeher ein Brandweintrinker", ein dritter "sehr entbehrlich". Und bei Johann Gregorius, ebenfalls aus Urweiler, fiel Cetto ein: "Bey seinem Abgang kann die hiesige Gegend nur gewinnen und die russische Regierung blos verlieren."

Soweit also Carl Cetto, der übrigens selbst einen Migrationshintergrund hatte: Seine Vorfahren kamen um 1700 aus Oberitalien nach St. Wendel. Und stiegen zu einer angesehenen, mächtigen Familie in der Stadt auf. Ein weiterer Migrant, jedoch nicht aus Italien, sondern aus Zweibrücken, wurde 1828 offiziell Bürger der Stadt. Sein Name: Franz Bruch. Seit 1820 arbeitete er im Geschäft der Familie Cetto, machte sich dann selbstständig und legte den Grundstein zu einem Unternehmen, das mittlerweile auch in Russland oder Tschechien Supermärkte betreibt.

Planet der Nomaden. Einwanderer, Auswanderer. Migranten. Auch sie schreiben Geschichte und Geschichten. Einige haben Erfolg, einige scheitern. Sie "sind die Düne, die getrieben wird, aber auch der Wind, der vorantreibt", wie der Historiker Schlögel anmerkt.

 Carl Nikolaus Riotte fand in Amerika eine neue Heimat.

Carl Nikolaus Riotte fand in Amerika eine neue Heimat.

Der nächste Vortrag der Reihe: Dienstag, 23. Mai, 19 Uhr, Mia-Münster-Haus St. Wendel: "Das lange 19. Jahrhundert. Napoleon, Wiener Kongress und seine politischen Folgen.

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