Gewalt und Hänseleien unter Schülern Schlag auf Schlag im Schulalltag

Saarbrücken/Gütersloh · Ausgrenzung und Gewalt: Einer Studie zufolge fühlen sich viele Heranwachsende in der Schule nicht sicher. Auch im Saarland fehlt Lehrern oft die Zeit, um darauf zu reagieren.

 Boxhandschuh Mobbing Sprechblase; Grafik: Lorenz, istock

Boxhandschuh Mobbing Sprechblase; Grafik: Lorenz, istock

Foto: SZ/Lorenz, istock

  Karen Claasen weiß, wovon sie redet. Sie weiß, wie es ist, immer wieder improvisieren zu müssen. „Die Gewalt ist vorhanden, bis in die jüngeren Jahre. Wir sind Lehrer, keine Psychologen“, sagt die Vorsitzende des Verbands Reale Bildung (VRB) und Lehrerin an der Saarbrücker Gemeinschaftsschule Bruchwiese – jener Schule, die im Dezember 2017 mit einem Brandbrief bundesweit für Schlagzeilen gesorgt hatte. Damals ging es um Gewalt gegen Lehrer und Schüler. Begangen von Heranwachsenden. Ein Klima der Angst, das, wie sich wenig später herausstellte, auch in anderen Schulen im Saarland immer wieder Einzug hält.

Dazu passen die neuesten Erkenntnisse der Bertelsmann-Stiftung: Sie hat bundesweit 3448 Schüler zwischen acht und 14 Jahren zu negativen Erfahrungen im Schulalltag befragt. Ergebnis: Die Mehrheit hat Ausgrenzung, Hänseleien oder körperliche Gewalt bereits selbst erlebt. Und ein Viertel fühlt sich an der Schule nicht sicher. Besonders hoch ist demnach der Anteil der Übergriffe in den Grundschulen. Dort gaben knapp 30 Prozent der befragten Jungen und Mädchen an, im Vormonat von anderen Schülern gehänselt, ausgegrenzt und „absichtlich gehauen“ worden zu sein. An Haupt-, Real-, Gesamt- und Sekundarschulen war es jeder Fünfte, am Gymnasium jeder Zehnte. Was die Studie mit dem Titel „Children’s Worlds+“ auch zeigt: Schüler, die mitbekommen, dass das Geld Zuhause knapp ist, sind stärker von Ausgrenzung und Gewalt betroffen als andere.

Über alle Schulformen hinweg haben rund 65 Prozent der befragten Schüler im untersuchten Monat mindestens eine schlechte Erfahrung mit anderen Schülern gemacht.

„Das überrascht mich nicht“, sagt Katja Oltmanns, stellvertretende Vorsitzende der Landeselternvertretung im Saarland. Fiese Aktionen habe es an Schulen schon immer gegeben. Was sich nun aber deutlich geändert habe: die mediale Dimension. Heute habe jede Klasse ihre Whatsapp-Gruppe, Beleidigungen und Bilder von Mitschülern inklusive. „So ein Foto verschwindet so schnell nicht wieder.“ Deswegen hätten Handys an Grundschulen nichts zu suchen. „Die Kinder sind in dem Alter nicht reif genug.“ Die Geräte ganz aus der Schule zu verbannen, sei wenig realistisch, sagt Oltmanns. Aber man müsse Modelle finden, um den Konsum einzudämmen. Eltern müssten Vorbilder sein und sensibilisieren. „Es gibt aber auch Eltern, die es richtig gut finden, wenn ihr Kind mit drei Jahren ein Handy hat.“

Für mehr Mediensensibilität plädiert auch Lisa Brausch, Vorsitzende des Saarländischen Lehrerinnen- und Lehrerverbands. Doch das Digitale sei nicht das einzige Problem. Es wäre wichtig, die Schulen mit multiprofessionellen Teams auszustatten, sprich: Je nach Bedarf müssten Lehrer immer jemanden haben, der ihnen im Unterricht zur Seite steht und auf die Sonderbedürfnisse einzelner Schüler eingehen kann. Außerdem müsste es immer einen Sozialarbeiter pro Schule geben, Vetrauenslehrer bräuchten Extrastunden. „Man kann nicht alles in der Pause machen.“ Wenig Zeit plus wenig Ressourcen ist gleich Lehreralltag. Unter den befragten Achtjährigen haben immerhin noch 79 Prozent das Gefühl, dass ihre Lehrer sie ernstnehmen. Unter den 14-Jährigen sind es dagegen nur 57 Prozent. „Wenn Schüler sagen, dass sie sich von Lehrern zu wenig unterstützt fühlen, ist das ein Alarmsignal“, sagt Brausch. Und das dringt auch dann durch, wenn es um das Sicherheitsgefühl geht. Der Studie zufolge gibt ein Viertel der Schüler an, sich in der Schule nicht sicher zu fühlen. Auffällig sind hier Abweichungen zwischen den Schulformen: Während sich an Gymnasien 81 Prozent der Schüler sehr oder absolut sicher fühlen, sagen das unter Realschülern nur 73 Prozent. An Haupt-, Gesamt- und Sekundarschulen sind es 67.

Immerhin: Für die meisten Befragten ist ihr Zuhause ein sicherer Ort – nur 8,6 Prozent gaben das Gegenteil an. „Es ist davon auszugehen, dass es auch nicht in allen Familien gewaltfrei zugeht“, sagt Studienautorin Sabine Andresen.

Die Vorfälle zwischen Elternhaus und Schule sind oftmals schwer zu greifen – auch für die Polizei. Straftaten zwischen Schülern würden nicht separat erfasst, erklärt Stephan Laßotta, Sprecher des Landespolizeipräsidiums. Im jährlichen Bericht zur Jugendkriminalität und Jugendgefährdung gibt es lediglich die Kategorie „Delikte im Zusammenhang mit Schulen“. Darunter fielen auch Attacken zwischen Lehrern und Schülern, Vorfälle auf dem Schulweg, Graffiti an der Schulhofswand, erläutert Laßotta. Die saarländische Polizei registrierte im vergangenen Jahr 491 Delikte dieser Art. 2017 waren es noch 579 gewesen. Ein Rückgang – der jedoch nichts über die Gewalt unter Schülern aussagt.

Die VRB-Vorsitzende Karen Claasen wünscht sich auch mehr Psychologen an den Schulen. Ein Krisenteam müsse immer greifbar sein, Lehrer hätten weder Ressourcen noch Zeit, alles alleine zu regeln. Sie fordert das Bildungsministerium auf, Handlungsanweisungen zu geben, wünscht sich zur Orientierung klare Standards. „Wenn ein Schüler einen anderen mit der Faust ins Gesicht schlägt, muss ich doch wissen, was zu tun ist, und was die Konsequenzen sind.“ Wissen das Lehrer bisher nicht? „Nein. Es wird je nach Schule anders gehandhabt.“ Gleiches gelte für Bilder von Schülern im Netz. Claasen findet es unzumutbar, in solchen Situationen immer wieder improvisieren zu müssen.

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