Strafprozess wegen Kindesmisshandlung Stell Dir vor, ein kleiner Junge wird gequält . . . und keiner hilft ihm

Saarbrücken · Rund 14 Jahre lang soll eine Saarländerin ihren Stiefsohn gequält und misshandelt haben. Jetzt wurde die Frau zu sechs Jahren Haft verurteilt.

 Die Angeklagte vor Prozessbeginn am Landgericht.

Die Angeklagte vor Prozessbeginn am Landgericht.

Foto: dpa/Katja Sponholz

Betroffene Mienen, traurige Augen, leise Stimmen. Hier und da ein tiefer Seufzer: So etwas passiert doch nicht. Nicht bei uns. Nicht in einem Einfamilienhaus in einer beschaulichen Gemeinde im Landkreis Merzig-Wadern. Aber es ist passiert, alle haben es gehört: Wegen schwerer Misshandlung eines Kindes hat das Landgericht Saarbrücken gestern eine mehrfache Mutter zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Nach Feststellung der Richter hat die heute 53 Jahre alte Frau ihren Stiefsohn jahrelang geschlagen, misshandelt, gedemütigt und vernachlässigt. Der Vater (54) wurde wegen Verletzung seiner Fürsorgepflicht zu einem Jahr Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Er hätte genauer hinsehen und sich um seinen Sohn kümmern müssen. Die Angeklagten bestreiten die Vorwürfe.

„Ich kann mich erinnern, das ich von klein auf geschlagen wurde“, erzählte der junge Mann (25) ruhig und gefasst vor Gericht. Er berichtete von Schlägen mit der flachen Hand, von Tritten und von Würgen. Er erzählte, wie er mit dem Kopf an die Wand, mit Holzscheiden auf den Kopf und auf die Knie geschlagen worden sei. Und er schilderte viel heftigere Misshandlungen, die hart an der Grenze des Erträglichen für die Zuhörer waren. Warum er so gequält worden sei, konnte er nicht sagen. „Ich war nie vorlaut oder frech. Das hätte ich mich nie getraut.“

Das Ganze sei passiert, wenn sein Vater auf Montage war. „Wenn er zu Hause war, hat sich meine Stiefmutter zurückgehalten.“ Dann sei auch sein Essen besser gewesen. Nicht wie sonst, wo er häufig Haferflocken mit Wasser, Essensreste oder verschimmelte Lebensmittel bekommen habe. Und wenn der Vater am Wochenende nach sichtbaren Verletzungen oder blauen Flecken fragte, habe die Stiefmutter geantwortet: „Er war ungezogen. Er hat gestohlen. Er hat gelogen.“ Was dies zu bedeuten habe? Antwort des jungen Mannes vor Gericht: „Gestohlen war, weil ich Hunger hatte und Essen aus dem Kühlschrank oder dem Müll geholt habe. Gelogen war, weil ich das dem Vater gesagt habe. Dann wurde ich bestraft.“

In der Schule stahl er die Schulbrote von Mitschülern und bunkerte sie für Notfälle. Überhaupt, die Schule: Wenn seine blauen Flecken besonders schlimm waren, habe er dort nicht hingehen dürfen. Seinen Pulli habe er nie ausziehen, nie kurze Hosen tragen dürfen. Eine Zeugin beschrieb das vor Gericht so: „Er war immer super klein und traurig. Hat viel zu große Kleider mit Flecken getragen.“ Eine Mitschülerin brachte den damals 15 Jahre alten Jugendlichen zum Jugendamt. Dort erzählte er von den Misshandlungen. Auch seine Halbgeschwister würden ihn schlagen, sagte er. Aber die Stiefmutter würde dies unterbinden und sagen: Sie wisse, wie man das macht, ohne dass es blaue Flecken gebe.

Das Amt reagierte sofort und zwei Mitarbeiter fuhren zu der Familie. Dort wurde alles bestritten. Motto: Schwieriges Kind, gestürzt, Probleme mit den Geschwistern. Ergebnis: Das Jugendamt hielt telefonisch Kontakt zu der Familie. Und der Junge blieb dort. Daraufhin sei es eine Zeitlang besser gewesen, erzählte er. Aber dann sei es richtig schlimm geworden. Und: „Oberste Priorität war, dass nichts von dem nach außen dringt, was in den heiligen vier Wänden passiert.“

„Die heiligen vier Wände – was hier passiert, das bleibt drin. Und wenn Besuch kam, dann wurde eine heile Welt vorgespielt.“ Wieso konnte das so lange funktionieren? Vielleicht wegen der Stiefmutter. Sie hat Erfahrungen mit dem Jugendamt, weil sie früher nach eigener Aussage über Jahre als Tagesmutter 17 Kinder betreute. Und dann sind da die vielen Zeugen aus dem Umfeld der Familie, aus dem Jugendamt, aus der Schule, dem medizinischen Bereich. Dazu meinte die Staatsanwältin: Viele der Zeugen hatten „ein ungutes Gefühl“ bei dem Jungen. Sie hatten einzelne Beobachtungen gemacht, aber nicht gewusst, was die anderen wissen. Und niemand wollte den Stein ins Rollen bringen.

Also passierte nichts. Bis zu dem Zeitpunkt, als der Jugendliche im Alter von 17 Jahren flüchtete. Ein Mitschüler fand ihn auf der Straße und brachte den 40 Kilogramm schweren Jungen mit dem Aussehen eines Elfjährigen zum Jugendamt. Danach wurde das Mosaik über mehrere Jahre zusammengesetzt. Ärztliche Untersuchungen ergaben eine jahrelange Mangelernährung. Gerichtsmediziner analysierten alte Knochenbrüche und Narben. Die vielen Beobachtungen der Leute, die Verletzungen am Körper des jungen Mannes und seine Erzählungen ergaben das Bild seines Lebens. Hier im Saarland. In einer kleinen, beschaulichen Gemeinde mit wenigen Tausend Einwohnern.

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