Sich einfach von den Massen treiben lassen

St. Wendel · Heute vor 25 Jahren fiel die Berliner Mauer. Grund genug für die SZ-Redaktion St. Wendel, sich an die DDR zu erinnern. Und SZ-Fotograf Josef Bonenberger war damals bei der Aufbruchsstimmung dabei - er reiste am 10. November 1989 nach Berlin.

 Josef Bonenberger mit der Kamera, mit der er die historischen Aufnahmen einfing. Foto: hgn

Josef Bonenberger mit der Kamera, mit der er die historischen Aufnahmen einfing. Foto: hgn

Foto: hgn
 Volkspolizisten und Arbeiter der DDR beim Bau der Berliner Mauer am 6. Oktober 1961 im Norden Berlins an der Grenze zum Westberliner Bezirk Reinickendorf. Archivfoto: dpa

Volkspolizisten und Arbeiter der DDR beim Bau der Berliner Mauer am 6. Oktober 1961 im Norden Berlins an der Grenze zum Westberliner Bezirk Reinickendorf. Archivfoto: dpa

Zum Fotografieren. Die alte Contax 167 MT hat er noch. Und auch noch Gänsehaut, wenn er an die Tage nach dem 9. November 1989 denkt. SZ-Fotograf Josef Bonenberger aus St. Wendel war vor Ort. Zwar nicht am 9. November, aber am 10. und 11. "Ich habe vor dem Fernseher das Geschehen verfolgt und sagte dann zu meinem Chef: Ich muss dorthin", erzählt Bonenberger. Er war damals 35 und machte gerade eine Umschulung zum Fotografen. Und wollte fotografieren.

Der Bruder seines Chefs wohnte in Berlin, er hatte also eine Schlafgelegenheit. Mit dem Zug gings früh morgens in Richtung Osten. Am ersten Tag war nicht mehr viel drin mit Fotografieren. "Ich habe einen Plan für den nächsten Tag gemacht", erinnert er sich. Er holte sich noch ein paar Tipps, wie er zu den Grenzübergängen kommt. Mit U-Bahn und zu Fuß. "Aber das war gar nicht notwendig", sagt Bonenberger. "Es war einfach, sich zu orientieren": Er musste nur dem Strom folgen. Die Menschen wollten alle in Richtung eines Grenzübergangs. Bonenberger: "Ich glabue, halb Deutschland war an der Mauer." Er selbst war an drei verschiedenen Grenzübergängen.

Bonenberger ließ sich treiben. "Es war wie großes Kino." Er hielt die Augen offen, Motive boten sich überall. Grenzbeamte, die nicht einschritten. Menschen, die zur Begrüßung mit der Faus auf die Dächer der Trabis schlugen. Geschenke für die Ostler, die den Westen betraten. Bonenbergers Blick blieb auf einem Pärchen hängen. "Es hat mich besonders berührt." Er hatte den Arm um sie gelegt. Sie weinten, sie lachten. Sämtliche Emotionen waren spürbar. Als sie im Westen waren, überreichte ihr jemand einen Blumenstrauß. "Es war eine wahnsinnige Freude auf beiden Seiten zu spüren", erzählt der SZ-Fotograf.

Und es herrschte Aufbruchsstimmung. Abends in der Kneipe, da "lag auch die Wiedervereinigung in der Luft", sagt er: "In diesen Tagen schien alles möglich." Zehn Schwarz-Weiß-Filme und noch etwa zwei Farbfilme verbrauchte er. Im heutigen, digitalen Zeitalter klingt das sehr wenig. Aber: "Damals hat man sparsamer fotografiert." Wenn er zu dieser Zeit schon Pressefotograf gewesen wäre, so schätzt Bonenberger, dann hätte er wohl wesentlich mehr Bilder mit seiner Contax gemacht. Aber so, als Hobby-Fotgraf, da waren zwölf Filme schon viel.

Die Bilder sind für Bonenberger etwas besonderes. Erinnerungen. Aber auch geschichtliches Material. Nie wieder habe er ein vergleichbares Ereignis fotografiert: "Das war historisch."

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Matthias Zimmermann

Melanie MaiFünf Jahre Wiedervereinigung - wie sehen Sie's?" Mit dieser Frage schickten mich Ost-Kollegen an meinem ersten Ausbildungstag auf die Straße. Ließen mich auf Passanten los. Am 2. Oktober 1995. In Finsterwalde . Im tiefsten Osten. Mich, einen Wessi. Mein Akzent entlarvte mich. An die fünf Stimmen sollten für einen Bericht reichen. Im Normalfall eine Sache von 30 Minuten. Maximal. Doch was ist schon normal? Die Menschen, auf die ich traf, waren allesamt gebrandmarkt. Ex-DDR-Bürger, die mit dem Mauerfall schwierigen Zeiten entgegengegangen waren. So ließen sie ihrem Frust freien Lauf. Eine Menschentraube schloss mich in kürzester Zeit ein. Es dauerte Stunden, bis ich in die Redaktion zurückkehrte. Mit vielen Erfahrungen zum Seelen-Unheil der Menschen, die keine Wendegewinner waren. Davon gab's viele. Ihnen entlockte ich letztlich ein versöhnliches Lächeln: "Wissen Sie, ich komme aus dem Saarland - auch ein Land mit O: Ost-Frankreich."Päckchen packen - das verband ich seit frühester Kindheit mit der DDR . Jahr für Jahr kurz vor Weihnachten ging es in den Discounter. Vor allem Kaffee sollte eingepackt sein, aber auch diese englischen Toffee-Bonbons. Dann haben meine Mutter und ich den Inhalt fein säuberlich aufgelistet. Bloß nichts Kritisches einpacken, schon gar keine West-Zeitungen. Die Pakete gingen nach Ost-Berlin und Dresden - zu meinem Opa und der Halbschwester meiner Uroma. Sie schickte uns dafür jedes Jahr einen Christsstollen.

Die Horrorgeschichten von der DDR hörte ich als Kind zwar, aber ich registrierte sie nicht wirklich. Die DDR war für mich ein bisschen Normalität. Schließlich kam mein Opa - Rentner - jedes Jahr zu Besuch. Auch als ich 1985 zur Beerdigung seiner Frau in den Osten kam, verstand ich die Aufregung nicht. Alles wirkte wie bei uns. Nur: Ein Mittagessen kostete 80 Pfennig. Wie die DDR wirklich war, das checkte ich erst später. Radebeul in Sachsen und Aschbach im Saarland liegen viele Kilometer auseinander. Freundschaftliche Bande waren seit 1974 geknüpft. Regelmäßige - allerdings einseitige - Besuche ließen tiefe Einblicke in Lebenssituationen und Befindlichkeiten zu. Dann kam der Tag, der die Situation völlig veränderte. Ich hatte in Lebach Stadtratssitzung, als die ersten Meldungen kamen. Zu Hause gleich der Versuch, die Freunde telefonisch zu erreichen. Wie naiv! Banges Warten. Dann irgendwann erfahren wir, sie sitzen schon in ihrem Wartburg und sind auf dem Weg hierher. Dazwischen allerdings teils achtspurige Autobahnen. Der Fahrer berichtet später, dass er kurz davor war, seinen Wagen einfach auf dem Seitenstreifen zu parken. Völlig entnervt, Tränen überströmt, erreichen uns Fahrer und Beifahrerin dann doch und berichten über ihr großes Abenteuer. In unsern Alltagstrott weht große Geschichte, die mir heute noch Gänsehaut verursacht.Die Flüchtlinge in der ungarischen Botschaft, die Sonderzüge in den Westen, die Demonstrationen: Was sich 1989 in der damaligen DDR entwickelte, das habe ich mit Erstaunen, Unglauben, aber auch mit einer gehörigen Portion Furcht verfolgt. Der Gedanke war immer im Hinterkopf, dass das Regime gegen die eigenen Menschen zu irgendeinem Zeitpunkt mit massiver Gewalt vorgeht, Panzer rollen, Schüsse fallen werden und es Tote geben wird. So auch in der Nacht des Mauerfalles. Als ich aber die Bilder der vor Freude weinenden Menschen gesehen haben, die in den Westteil Berlins drängten, die auf der Mauer standen und winkten, da war ich richtig aufgewühlt, hatte zeitweise Tränen in den Augen. Von Schlafen keine Rede mehr. "Heute wird Geschichte geschrieben, Weltgeschichte", habe ich gedacht. Morgen, wenn wir aufstehen, ist Deutschland nicht mehr so, wie es vorher war. Und wir sind, wenn auch nur am Fernsehen, live dabei.

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