Feier Plädoyer für ein Lernen aus dem Gestern

St. Wendel · Saarlands Antisemitismus-Beauftragter, St. Wendels Landrat und Schüler des Wendalinum zeigen, was Erinnern an die NS-Zeit wirklich bedeutet.

 Schattenspiel: Wendalinum-Schüler erinnern an das Schicksal des ehemaligen jüdischen Schülers Fritz Berl.

Schattenspiel: Wendalinum-Schüler erinnern an das Schicksal des ehemaligen jüdischen Schülers Fritz Berl.

Foto: B&K/Bonenberger/

Es gab ihn – diesen gewissen feierlichen Duktus am Sonntagabend in der Aula des Gymnasiums Wendalinum. Gedämpfte Stimmen mit ernsten Botschaften drangen über die Lautsprecher zu den Besuchern. Die Redner boten feinste Rhetorik – allen voran der neue Antisemitismus-Beauftragte des Saarlandes, Roland Rixecker.

Zum fünften Mal organisierte der Landkreis St. Wendel eine zentrale Veranstaltung anlässlich des internationalen Gedenktages an die Opfer des Nationalsozialismus. Mit dem 27. Januar wurde jener Tag zum Gedenken ausgewählt, an dem vor 74 Jahren das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau befreit wurde. Landrat Udo Recktenwald (CDU) bezeichnete Auschwitz als jenen Ort, der „stellvertretend für die von den Nationalsozialisten begangenen Verbrechen steht und für das, was Menschen anderen Menschen antun können.“ Deshalb, so unterstrich St. Wendels Landrat, „können wir nicht einfach einen Strich unter die Geschichte ziehen“. Sie sei Teil der deutschen Identität. Und so auch das Gedenken daran. „Wir brauchen die Jugend, damit die Erinnerungsarbeit eine Zukunft hat“, sagte Recktenwald.

Am Gymnasium Wendalinum scheint das der Fall zu sein. Denn bereits in der dritten Generation engagieren sich Schüler in dem Seminarfach „Wendalinum wider das Vergessen“, das Lehrer Rafael Groß 2015 ins Leben gerufen hat. Wie alles begann und mit welchen Fragen und Zielen sich 21 Schüler der Jahrgangsstufe elf der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit widmen, verriet ein Film, der über die Leinwand an der Bühne flimmerte. Animierte Strichmännchen, die so wirkten, als würde sie gerade jemand auf ein Blatt Papier zeichnen, stellten zusammen mit scheinbar hin gekritzelten Schlagworten flott und mit einem gewissen Charme das Projekt vor.

Dann wurde es dunkel im Saal. Das Licht konzentrierte sich auf den weißen Vorhang. Die Konturen eines Jungen wurden sichtbar. Eine Schattengestalt, die in einem Buch blätterte, dazu erklang eine Stimme, die sagte: „Mein Name ist Fritz Berl.“ In der Ich-Form erzählten die Jugendlichen die Geschichte eines ehemaligen Schülers, eines jüdischen Jungen, der zunächst glücklich aufwuchs und schließlich alles verlor. Alte Aufnahmen und Dokumente ergänzten die vorgetragenen Erinnerungen. Eine Fotografie aus dem Jahr 1940 zeigte Fritz Berl mit seiner Mutter, kurz bevor der 14-Jährige seine Heimat verließ und nach Israel floh. Als Notiz war darauf geschrieben „Vergiss nie Deine Mutter.“ Es sollte das letzte Foto sein. Nur einer jener Momente während des Vortrags, an dem der ein oder andere Gast wohl schlucken musste.

Wie viel Engagement die Schüler bereits in die Erinnerungsarbeit gesteckt haben und aktuell stecken, wurde deutlich, als sie einzelne Bausteine vorstellten. So die eigene Website, die stetig gepflegt wird, eine fürs Smartphone entwickelte App oder die Auftritte bei den sozialen Netzwerken Facebook und Instagram. Die Schüler haben einen Wikipedia-Eintrag zu den Stolpersteinen in St. Wendel und Tholey angelegt und die einzelnen Standorte auch noch gleich samt Infos und Fotos bei einem Stolperstein-Guide im Internet eingetragen.

Aktuell arbeiten die Jugendlichen außerdem an einem Video, indem sie Gleichaltrige zu Themen wie „Was ist typisch Deutsch?“ oder „Was ist Antisemitismus?“ befragen. Bei dem „Best-of“, das den Besuchern schon mal exklusiv präsentiert wurde, durfte dann auch mal geschmunzelt werden.

Höhepunkt der Veranstaltung war die Rede von Professor Roland Rixecker, Präsident des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes. „Antisemitismus im Lichte der Verfassung und der Gesetze“ lautete sein Thema. Er sprach von Straftaten, motiviert vom Hass gegenüber Juden. Kriminelles Unrecht, das verfolgt wird. Aber was, so fragte er, ist mit Verletzungen, die nicht körperlicher Art und nicht strafbar sind, aber doch so viel Schaden anrichten?

Der saarländische Antisemitismus-Beauftragte berichtete von einer Szene in einer Arztpraxis zwischen zwei wartenden Frauen. Eine trägt einen Menora-Anhänger (ein religiöses Symbol des Judentums), auf den die andere aufmerksam wird. Sie fragt nach dessen Bedeutung. Bereitwillig gibt die Angesprochene Auskunft. Dann die Reaktion: „Ach, haben die sie vergessen.“ Absolute Stille in der Aula. „Es ist dieser sekundäre Antisemitismus, auf den wir achten müssen. Auf dieses hinterlistige, schamlose, Menschen verachtende Verhalten.“

Klar bezog Rixecker auch Stellung dazu, dass er ein Erinnern an die Vergangenheit für wichtig halte und zitierte den Gelehrten Wilhelm von Humboldt, der einmal sagte: „Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft.“ Für ihn ist der 27. Januar aber auch „kein Tag der Vergangenheit, sondern der Zukunft.  „Es geht um die Verantwortung!“ Darum, Gefahren zu erkennen und das höchste Gut des Grundgesetzes zu bewahren: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

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