Band Muskelschwund Punkrock aus dem Rollstuhl

St. Wendel · Tobias und Jonas Bier leiden an Muskelschwund. Die Musik hilft den Brüdern, besser mit ihrem Schicksal klarzukommen. Mit Freunden haben sie eine Band gegründet — und stehen mittlerweile regelmäßig auf der Bühne.

 Die Band Muskelschwund in ihrem Proberaum: (von links) Jonas Bier, Alexander Scheffler, Tara Schu und Tobias Bier.

Die Band Muskelschwund in ihrem Proberaum: (von links) Jonas Bier, Alexander Scheffler, Tara Schu und Tobias Bier.

Foto: B&K/Bonenberger/

Die Musik bedeutet ihnen alles. Sie können zwar nicht tanzen, springen oder über die Bühne laufen – aber rocken können Jonas und Tobias Bier trotzdem. Und wie. Wenn die beiden in die Saiten greifen, wird es laut. Richtig laut. „Unseren Proberaum mussten wir schon zwei Mal wechseln“, erzählt Tobias. „Irgendwann haben sich immer Leute beschwert, dass wir zu viel Lärm machen“, ergänzt Jonas und muss darüber lachen.

Die Brüder – 27 und 30 Jahre alt – leiden an Muskelschwund. Seit ihrer frühen Jugend sitzen sie im Rollstuhl. Das hindert die Jungs aus St. Wendel jedoch nicht daran, Musikunterricht zu nehmen. Tobias fängt an, Bass zu spielen. Jonas’ Wahl fällt auf die Gitarre. Schon bald wächst in ihnen der Wunsch, eine eigene Band zu gründen. Und den erfüllen sie sich im Sommer 2016. Damals lernen sie im Theleyer Jugendzentrum den musikbegeisterten Studenten Alexander Scheffler kennen. Stundenlang quatschen sie, unterhalten sich über ihre Leidenschaft – und vereinbaren den ersten Probetermin. Es habe von Anfang an gepasst. Auch beim Bandnamen seien sich die Rock-Fans schnell einig gewesen. „Als die Brüder den Namen Muskelschwund vorgeschlagen haben, war die Sache sofort klar“, sagt Alexander.

Im Dezember desselben Jahres treten die drei bereits beim Rock@Club in St. Wendel auf. Im Publikum steht damals auch ihre jetzige Schlagzeugerin Tara Schu. Und die erinnert sich noch genau an den Auftritt. „Das war so lustig. Alex hatte den Text vergessen und alles war voll improvisiert. Aber die Zuschauer haben sie gefeiert“, erzählt die 18-Jährige. Sie ist überzeugt: Die Band fällt nicht nur wegen ihrer ungewöhnlichen Konstellation auf, sondern auch wegen des Sounds. Welche Art von Musik die vier machen, wissen sie nach eigener Aussage selbst nicht so genau. „Es ist experimenteller Punk mit schrägen Einflüssen“, findet Jonas. Alexander beschreibt die Musik gerne mit dem Wort „Krankrock“. Und Tara erklärt: „Das, was uns gefällt, kommt rein. So einfach ist das.“

Nicht ganz so einfach ist für Tobias und Jonas hingegen die Planung der Konzerte. Sie sind immer auf ihren Vater angewiesen. Er kutschiert seine Söhne mit einem speziell umgebauten Bus durch die Gegend. Wenn ein Auftritt ansteht, müssen die Brüder darauf achten, dass vor Ort alles behindertengerecht ist. „Wenn wir eine Anfrage bekommen, frage ich zuerst immer, ob wir da überhaupt mit dem Rollstuhl hinkommen“, sagt Tobias. „Einige Veranstalter machen sich darüber gar keine Gedanken. Aber manche Treppen sind echt gefährlich für uns“, fügt Jonas hinzu. Bei ihrem bislang größten Konzert sei aber alles glatt gelaufen. Im vergangenen Jahr hat Muskelschwund bei Punk For Help in der Stummschen Reithalle in Neunkirchen gespielt. Vor mehr als 100 Zuschauern. „Die Bühne war groß und der Sound super“, schwärmt Tara.

Den bislang besten Auftritt – und da sind sich die vier einig – hatten sie allerdings im Wohnzimmer der Hippie-Oma. So nennen die Band-Mitglieder ihren größten Fan: eine 60 Jahre alte Frau aus St. Wendel. „Wir haben sie bei einem Konzert kennengelernt. Manchmal treffen wir uns mit ihr und gehen einen trinken“, sagt Jonas. Irgendwann habe die Hippie-Oma sie gefragt, ob sie Lust hätten, bei ihr Zuhause zu spielen. „Das war eine richtige Party. Wir hatten viel Spaß“, erzählt Jonas.

Gemeinsam zu feiern, zu lachen und eine gute Zeit zu haben – das ist der Band ohnehin am wichtigsten. Wenn sie nicht gerade proben, gucken sie Filme, spielen Karten, besuchen Konzerte oder gehen ins Pub. „Seit Kurzem darf ich die beiden auch im Rollstuhl schieben. Das haben sie mir früher nie zugetraut, weil es schon anstrengend ist“, sagt Tara. Dass ihre Freunde auf Hilfe angewiesen sind, ist für sie kein Problem. „Die beiden sind cool drauf“, findet die angehende Erzieherin. Darauf komme es an. Und auf die Musik.

Die ist für die Brüder auch eine Art Therapie. Eine Sucht, die sie immer weiter machen lässt.  Aufzugeben und zu jammern, ist für sie keine Option. „Man soll das Leben genießen“, sagt Jonas. Und das möchten sie auch ihren Zuhörern mit auf den Weg geben. Ihre Texte handeln von zwischenmenschlichen Zerwürfnissen und Unterdrückung Behinderter. Ihr Song „Todesspritze“ thematisiert beispielsweise die Euthanasie im Dritten Reich. „Wir beschäftigen uns mit Themen, an die sich sonst nicht viele herantrauen“, sagt Jonas

Ein Blatt nehmen die Brüder selten vor den Mund. Mit ihrer Krankheit und ihrem Schicksal gehen sie offen und offensiv um. „Wir wollen kein Mitleid“, sagt Tobias. Und das ist auch der Grund, warum sie sich auf der Bühne so wohlfühlen. Viele Menschen würden sie nicht als Person wahrnehmen, sondern als Rollstuhlfahrer. „Aber wenn wir auf der Bühne sind, ist das anders“, erklärt Tobias, „dann geht’s nur um die Musik.“

Weitere Informationen über die Band Muskelschwund und einige Hörproben gibt es im Internet auf der Webseite: www.muskelschwund.bandcamp.com/releases.

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