Wer liest schon öde Verträge?

Bei seiner Neujahrsansprache erklärte der kaufmännische Direktor des Uniklinikums, Ulrich Kerle, dass im 185-Seiten starken Koalitionsvertrag auch der Betrieb von Unikliniken erwähnt wird. Endlich mal jemand, der den Koalitionsvertrag gelesen hat! Seit drei Tagen soll ja auch der Bericht des Wissenschaftsrates im Netz stehen, diesmal 450 Seiten lang.

Die Landespolitiker sind vermutlich noch mit Lesen beschäftigt. In den Verträgen von Maastricht, von Lissabon, von Nizza und von Amsterdam sollen ja auch viele unbegreifliche Dinge drinstehen, die unser Leben innerhalb Europas bestimmen, ohne dass wir das Zeug je gelesen hätten. Wir wundern uns nur, dass wir mit Glühbirnen- und neuerdings auch mit Staubsaugerverordnungen belästigt werden. Hätten wir ja alles nachlesen können.

Wie man in Brüssel ausgerechnet auf Staubsauger verfiel, scheint auf den ersten Blick unbegreiflich. Aber wahrscheinlich haben die EU-Beamten, anstatt Verträge aufmerksam zu lesen, den Reinigungskräften hinterhergeschaut. Das würde einiges erklären. Nun stellt sich natürlich die Frage, wo der Wissenschaftsrat hingeschaut hat, als es um die Bewertung der Medizinischen Fakultät ging. Es waren unter anderem die baulichen Zustände, die die bewertenden Professoren erschreckt haben. Eine "desolate Lehrinfrastruktur" wurde festgestellt: auf dem Campus gebe es zu wenig Aufenthaltsplätze für die Studenten, die Seminarräume seien klein und mies. Da hilft auch kein Staubsauger mehr. Nun ja, die Landeskinder sind hart im Nehmen, schon in den 1960er Jahren hockten sie auf nassen Wiesen herum, wie man auf alten Fotos sieht. Dafür gab's in der Kantine Steak frites, schwärmen pensionierte Ärzte noch heute. Man kann das im Élysée-Vertrag unter "Patrimoine gourmand" bestimmt nachlesen. Das hat nur noch nie einer getan.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort