Industrialisierung war im Kreis noch ganz am Anfang

Doch auch bei den anderen Großmächten machten sich Sorgen um ihre jeweilige wirtschaftlichen oder militärischen Machtpositionen breit. Die Folge war ein Zusammenspiel von Ängsten und Befürchtungen, das die Entscheidungen der Politiker und Militärs in Europa beeinflusste.



Die Franzosen fürchteten ins Abseits geschoben zu werden, die Russen sorgten sich um den Einflussverlust nach der Niederlage gegen Japan im Jahr 1905, Österreich-Ungarn bangte um seinen Großmachtstatuts und in Großbritannien herrschten Niedergangsängste. Rationale Interessenverfolgung war unter solchen Umständen kaum möglich.

Auch in diesen Ländern waren Politiker und Militärs der Überzeugung, dass ein Krieg in Europa auf Dauer unvermeidbar sei. So setzte sich in den Köpfen der Militärs ganz allgemein die Auffassung durch, dass Organisation und Strategie derart fortgeschritten seien, dass ein Krieg durch rasche Aufmärsche von riesigen Armeen sowie einige erfolgreich absolvierte Schlachten entschieden werden könne. Dementsprechend orientierten sich auch die Generalstäbe in Frankreich und Russland an einer reinen Offensivstrategie.

Pulverfass Balkan

Vor allem der Balkan spielte in der Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs eine sehr unheilvolle Rolle. Er war, soweit er nicht ohnehin zum Staatsgebiet Österreich-Ungarns gehörte, im 19. Jahrhundert gewissermaßen zum imperialen Hinterhof der Donaumonarchie geworden, in dem sie gewisse Sonderrechte beanspruchte. Seit sich das Osmanische Reich vor allem nach der Niederlage im russisch-türkischen Krieg 1878 im fortschreitenden Niedergang befand, hatte sich auf dem Balkan die Möglichkeit ergeben, die nationalen Ideen der dort lebenden Völker in konkrete Bestrebungen zur Bildung von Staaten zu überführen. Als erstes erfolgte das bei den Griechen, später bei Rumänen, Bulgaren und Serben. Daher bedurfte es der permanenten Einwirkung durch eine Ordnungsmacht von außen, um die immer wieder aufflammenden Staaten- und Bürgerkriege einigermaßen einzuhegen. Um diese Rolle stritten sich jedoch gleich drei Mächte: die Türken, die Rechtspositionen ihrer einstigen Stellung verteidigten, das Habsburger Reich, das vom 17. und 18. Jahrhundert an die türkische Position auf dem westlichen Balkan eingenommen hatte und schließlich Russland, das sich als Schutzmacht der slawischen Völker ansah. Die Donaumonarchie und das Osmanische Reich hatten sich hinsichtlich ihrer jeweiligen Einflusszonen arrangiert. Zwischen Österreich-Ungarn, der sogenannten Doppelmonarchie, und Russland hingegen bestanden diesbezügliche Differenzen und im Zentrum der sich überlappenden Ambitionen stand Serbien.

Es war somit ein doppelter Konflikt, der den Auseinandersetzungen auf dem Balkan Dynamik und Schärfe verlieh: auf der einen Ebene konkurrierten die Donaumonarchie und das russische Zarenreich um die Nachfolge des zerfallenden Imperiums der Osmanen in Südosteuropa, gegen das beide einige Jahrhunderte gekämpft hatten. Auf der anderen Ebene handelte es sich um einen von den Balkanstaaten untereinander geführten Kampf, in dem es um wechselseitige Gebietsansprüche ging. Beide Konfliktebenen waren inzwischen stark ineinander verwoben. Gerade das machte die Auseinandersetzungen auf dem Balkan so gefährlich. Denn sie bargen allesamt die Gefahr, auf ganz Europa überzugreifen. Seit dem russisch-osmanischen Krieg von 1877/78, in dem das Zarenreich erstmals als Schutzmacht der Bulgaren und Serben aufgetreten war, wurde nicht zuletzt Russland von den anderen Großmächten bei seinen Aktionen auf dem Balkan argwöhnisch beobachtet.

Bedingt durch die Schwäche des osmanischen Reiches, das von 1908 an immer rascher zerfiel, war es ab dieser Zeit auf dem Balkan zu einer Reihe kriegerischer Auseinandersetzungen gekommen. Wie explosiv die Lage dort war - Diplomaten sprachen damals vom "Pulverfass auf dem Balkan" - zeigte sich 1912 im Ersten Balkankrieg. Im Oktober dieses Jahres attackierten Truppen des aus Serbien, Bulgarien, Griechenland und Montenegro bestehenden Balkanbundes das osmanische Reich, schlugen dessen Truppen und teilten die Reste des europäischen Reichsteils der Osmanen bis auf einen kleinen Streifen unter sich auf. Weil sich die Bulgaren von den Serben bei der Verteilung des osmanischen Territoriums übervorteilt fühlten, brach die Regierung in Sofia wenige Monate später im Juni 1913 den Zweiten Balkankrieg vom Zaun. Allerdings erwies sich die bulgarische Armee den verbündeten Serben und Griechen als unterlegen, zumal Rumänien zeitgleich von Norden her in die Kämpfe eingriff und schließlich auch die Türken die Gelegenheit nutzten, sich einige Teile der zuvor verlorenen Gebiete von Bulgarien zurück zu holen.

Die beiden Balkankriege hatten für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs entscheidende Bedeutung: sie verschafften der Idee eines Groß-Serbien in Belgrad politisch Auftrieb. In Deutschland und England breitete sich dagegen, was die Entwicklung auf dem Balkan anging, der trügerische Eindruck einer allgemeinen Entspannung aus.

Neben den Krisen auf dem Balkan haben vor allem auch noch die Marokko-Krisen 1905 und 1911 auf dem Weg in den Ersten Weltkrieg eine gewisse Bedeutung. In diesen Krisen gerieten Deutschland und Frankreich aneinander. Die sogenannte "Agadir-Krise" hatte im Sommer 1911 dabei fast zu einem Krieg zwischen Deutschland und Frankreich geführt. Bereits im Frühsommer 1911 hatte Frankreich den europäischen Mächten mitgeteilt, dass es "Berber-Aufstände" im Marokko gebe, wodurch dort lebende französische Bürger bedroht seien. Frankreich sei deshalb gezwungen, weitere Truppenkontingente dorthin zu entsenden.

Das deutsche Auswärtige Amt suchte diese Situation zu nutzen, um der vor sich hin dümpelnden deutschen Kolonialpolitik neuen Aufschwung zu verleihen. Um vorgeblich gefährdete Interessen deutscher Kaufleute in Marokko zu belegen, versandte das Auswärtige Amt an die wenigen in Marokko ansässigen deutschen Staatsbürger Depeschen. Darin ersuchte man diese, Hilferufe an die deutsche Regierung zu verfassen. Auf der Grundlage derartiger "Bittschriften" wurde daraufhin im Juni 1911 das Kanonenboot "Panther" nach Marokko geschickt, das am 1. Juli vor dem Hafen von Agadir auftauchte und dort Anker setzte.

In Frankreich war die Empörung über das Säbelrasseln und den als deutsche Machtdemonstration verstandenen "Panthersprung nach Agadir" überaus groß. Schließlich musste die Reichsregierung, nicht zuletzt auf massiven englischen Druck hin, klein beigeben. Die in der Öffentlichkeit überaus hoch gehängten Verhandlungen mit Frankreich führten lediglich zu einem geringfügigen Gebietstausch und Zugewinn für das deutsche Kolonialreich in Afrika. Allerdings wuchs in Frankreich ein neuer Nationalismus heran, der nicht mehr bereit war, sich von den als feinselig betrachteten deutschen Nachbarn drohen zu lassen, ohne entsprechende Konsequenzen zu ziehen.

Gerade die in den Auseinandersetzungen zu Tage tretende Bereitschaft Deutschlands, militärische Stärke als Drohpotential einzusetzen, hatte dem Ansehen des Reiches sehr geschadet. Deutschland wurde daraufhin allgemein als Bedrohung für den Frieden empfunden. Tatsächlich erschien im Spätsommer und Herbst 1911 ein europäischer Krieg sehr viel wahrscheinlicher als später dann im Juli 1914.

Im Gefolge dieser zweiten Marokko-Krise im Juli 1911 hatte ein deutsches Militärgesetz vom 30. Juni 1913 den Weg für eine erhebliche Aufstockung der aktiven Streitkräfte geebnet. Dabei richtete sich dieses Gesetz im Grunde genommen nicht gegen Frankreich; vielmehr war der Ausbau der aktiven deutschen Streitkräfte vorrangig ein Signal an die Adresse Russlands. Die Franzosen teilten diesen Standpunkt allerdings nicht. Ihnen erschloss sich der strategische Sinn dieses Gesetzes nicht, das die deutschen Truppenreserven aufwerten wollte, um sie im Kriegsfall von Anfang an einsetzen zu können. Paris empfand das deutsche Militärgesetz als Drohung und rüstete deshalb im Sommer 1913 selbst auf, indem es die gesetzlich verankerte Wehrdienstzeit von zwei auf drei Jahre verlängerte.

Auch hier in der Merziger Region war man sich der in den vorstehenden Ausführungen zum Ausdruck kommenden wirtschaftlichen und militärischen Stärke Deutschlands zu dieser Zeit sehr bewusst. Das wird in dem Artikel der Merziger Zeitung vom 21. Januar 1914 deutlich, mit dem an die Gründung des Deutschen Reiches im Jahr 1971 erinnert wurde. Dort heißt es: "Der Geburtstag des deutschen Reiches ist vorüber. Dreiundvierzig Jahre lang hat unser schönes Vaterland nunmehr in seiner neuen geeinigten Form eine Rolle in Europa gespielt. Jahre des Friedens und großer kultureller Fortschritte sind diese 43 Jahre gewesen, und das Herz jedes Patrioten muss höher schlagen, wenn er den kühnen Aufstieg zur Höhe verfolgt, den Deutschland vom Tage seiner Neugeburt ab angetreten hat und auf dem es hoffentlich in aller Zukunft fortschreitet. Wohl hat es ihm in dieser langen Zeit an Neidern, selbst im eigenen Volke, nicht gefehlt, und die Zahl der aus Prinzip ewig Unzufriedenen ist auch jetzt noch hoch genug. Dennoch mögen wir beruhigt in die Zukunft schauen, denn dass ein gesunder Patriotismus noch tief im deutschen Volke steckt, hat uns manches Ereignis der letzten Jahre mit erfreulicher Deutlichkeit bewiesen. Und besonders die grandiose Aufgabe des letzten Jahres, unsere Wehrkraft so stark zu erhöhen, dass ihre Zahl uns für lange Zeit hinaus Frieden und Fortentwicklung sichert, ist ohne nennenswerte Schwierigkeiten und Hindernisse gelöst worden. Hoffen wir, dass der gute Geist, der in diesem Fall das deutsche Volk beseelte, ihm noch lange ungeschwächt erhalten bleiben möge."

Zu diesem Zeitpunkt standen sich in Europa zwei Staatenbündnisse als Blöcke einander gegenüber: auf der einen Seite der sogenannte Zweibund, das heißt die Kaiserreiche Deutschland und Österreich-Ungarn, und die sogenannte Entente aus französischer Republik, russischem Zarenreich und britischer Monarchie auf der anderen.

Obwohl im Frühjahr 1914 keine der beiden Seiten einen Angriff plante, betrachteten zu diesem Zeitpunkt alle Großmächte Krieg als legitimes Mittel der Politik und hielten einen Waffengang mittelfristig sogar für unvermeidbar. Alle Hauptbeteiligten fürchteten um Ansehen, Einfluss oder sogar die Existenz: Frankreich glaubte, den Rüstungswettlauf gegen Deutschland verloren zu haben und drängte Russland, das Reich von Osten her unter Druck zu setzen. Deutsche Militärs wiederum nahmen an, auf Dauer den Russen unterlegen zu sein, was dafür sprach, schnell los zu schlagen. Der Zar schließlich befürchtete, da zu dieser Zeit das Verhältnis zwischen Großbritannien und Deutschland relativ entspannt und das Wettrüsten der Flotten im Grunde genommen zum Stillstand gekommen war, die Briten könnten die Fronten wechseln und rüstete auch deshalb auf. In London ging ungeachtet des relativ entspannten Verhältnisses zu Deutschland dennoch die Angst um, das dynamische Deutsche Reich werde dem Empire den Rang ablaufen. Dazwischen funkten kleine Staaten wie Serbien, die die großen gegeneinander auszuspielen versuchten.

Goldene Jahre

Ungeachtet aller politischen Wirren, Krisen und Spannungen in der Zeit nach dem Regierungsantritt Kaiser Wilhelms II. und dem Ausscheiden Bismarcks als Reichskanzler sind die Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Bewusstsein der Zeitgenossen als die "gute alte Zeit" haften geblieben. Mit den Worten: "Herrlichen Tagen führe ich euch entgegen", hatte Wilhelm II. in einer Rede im Jahre 1892 Deutschlands Zukunft vorhergesagt. Der Kaiser gab damit einer allgemeinen Stimmung Ausdruck, wie sie im Bürgertum allgemein und auch in weiten Teilen der Arbeiterschaft herrschte.

Mitte der neunziger Jahre hatte tatsächlich auch eine beispiellose Hochkonjunktur eingesetzt, die von zwei kurzen Rezessionen (1901/02 und 1907/08) unterbrochen bis zum Ausbruch des 1. Weltkriegs anhielt. In der Erinnerung lebten diese beiden Jahrzehnte fort als die goldenen Jahre eines dauerhaften wirtschaftlichen Aufschwungs und Wohlstands, in denen es scheinbar nur noch aufwärts ging. Manche Historiker sprechen, bezogen auf die Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung nach 1895, von einem ersten deutschen Wirtschaftswunder. Die Wachstumsraten waren tatsächlich imponierend. Zwischen 1895 und 1913 verdoppelte sich die Gesamtproduktion von Industrie und Handwerk, die Wertschöpfung der gesamten Volkswirtschaft wies eine Steigerung um 76 Prozent auf.

Die rasante Produktivitätssteigerung in der Industrie überforderte die Aufnahmefähigkeit des Binnenmarktes. Mit Macht drängte das Deutsche Reich daher auf die Weltmärkte; die deutschen Exporte nahmen von 1895 an sprunghaft zu. 1913 kam Deutschland knapp hinter Großbritannien auf den zweiten Platz im Welthandel; in einigen Bereichen hatte es der bis dahin führenden Handelsnation sogar bereits den Rang abgelaufen. Die Wachstumsdynamik der deutschen Volkswirtschaft beruhte vor allem auf dem Aufstieg neuer industrieller Leitsektoren: der chemischen und der Elektroindustrie. In beiden Bereichen errang das Deutsche Reich eine führende Stellung auf den Weltmärkten, bei einigen Produkten, wie künstlichen Farbstoffen oder pharmazeutischen Erzeugnissen bis hin zum Monopol.

Noch höhere Wachstumsraten als die chemische hatte die Elektroindustrie zu verzeichnen. Traditionell stark war auch die Stellung des deutschen Maschinenbaus. Die Automobilindustrie spielte dagegen vor 1914 noch kaum eine Rolle. Ein Auto zu besitzen war ein Luxus, den sich nur wenige Wohlhabende leisten konnten. Im gesamten Reich waren bei Ausbruch des Krieges noch nicht einmal 100 000 Pkw zugelassen.

Die imperialistische Machtpolitik, die sich vor allem im Bau einer großen Schlachtflotte und dem Erwerb von Kolonien äußerte, fand auch im Bürgertum, der neben dem Adel führenden Gesellschaftsschicht des Kaiserreichs, begeisterte Zustimmung.

In der breiten Bevölkerung herrschte daneben die Meinung vor, dass die Industrialisierung den Wohlstand ganz allgemein gehoben hatte. Man hatte erkannt, dass der Einsatz der Dampfmaschine sowie die Erfindungen und Forschungen in Technik und Chemie auch den Menschen zugute gekommen waren. Die Fortschritte im Verkehrs- und Kommunikationswesen durch Dampfschifffahrt, Eisenbahn, Telegraphie und Telefon hatten die Menschen zusammengeführt, die Erfolge der Medizin sie von großem Leid erlöst. Aber auch in sozialer Hinsicht war im Bewusstsein vieler Zeitgenossen durch die auf Bismarck zurückgehende Sozialgesetzgebung ein bedeutender Fortschritt errungen worden.

Allerdings war die persönliche Situation vor allem der Arbeiterschaft im Kreis Merzig nach heutigen Maßstäben gesehen doch alles andere als zufriedenstellend. Die Industrialisierung hatte das Kreisgebiet im Grunde genommen recht stiefmütterlich behandelt. Kurz vor Kriegsbeginn waren allein die Fabriken von Villeroy & Boch in Mettlach und Merzig mit 2400 beziehungsweise 750 sowie die Schraubenfabrik Karcher in Beckingen mit 900 Beschäftigten Betriebe, die einer größeren Belegschaft Arbeit und Brot bieten konnten. < Wird fortgesetzt.

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